European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1977:0020OB00220.77.1125.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision der Beklagten wird nicht Folge gegeben.
Hingegen wird der Revision des Klägers Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.
Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger die mit S 2.624,40 (darin keine Barauslagen, S 194,40 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit S 3.682,48 (darin keine Barauslagen, S 272,78 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 3. Dezember 1975 gegen 15.30 h ereignete sich auf dem Platz „A*“ in G* ein Verkehrsunfall, bei welchem der am Rand des östlichen Gehsteiges in Richtung H*gasse gehende Kläger von einem in die gleiche Richtung fahrenden, von H* K* gelenkten Straßenbahntriebwagen der Beklagten gestreift und niedergestoßen wurde.
Mit der Behauptung, daß den Straßenbahnfahrer das Alleinverschulden an diesem Unfall treffe, weil er trotz Kenntnis des Umstandes, daß die äußerste rechte Begrenzung seines Triebwagens ca. 40 cm über die Schienen hinausragte, keine ausreichenden Warnsignale abgegeben und auch seine Annäherungsgeschwindigkeit nicht zeitgerecht auf Schritttempo reduziert habe, begehrt der Kläger im vorliegenden Rechtsstreit die Feststellung, daß ihm die Beklagte für alle künftigen Unfallsschäden ersatzpflichtig sei; hilfsweise verlangt er unter Hinweis darauf, daß die Beklagte als Fahrzeughalterin für die Betriebsgefahr der von ihr betriebenen Straßenbahn einzustehen habe, die Feststellung der Schadenshaftung der Beklagten „nach Maßgabe der am Unfallstag geltenden Haftungshöchstbeträge des EKHG für Eisenbahnen“.
Die Beklagte hat die Möglichkeit unfallsbedingter Dauerfolgen und damit das Feststellungsinteresse des Klägers außer Streit gestellt, im übrigen aber die Abweisung des Klagebegehrens beantragt, weil der Kläger den Unfall durch eine plötzliche, für den Straßenbahnfahrer nicht vorhersehbare Querbewegung nach links selbst verschuldet habe. H* K* habe bei Annäherung an die Unfallsstelle mehrfache Glockensignale abgegeben und auch die für diesen Fußgängerbereich vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 10 bis 15 km/h eingehalten; da der unmittelbare Gleisbereich völlig frei gewesen sei, habe er keine Veranlassung gehabt, seine ohnehin geringe Fahrgeschwindigkeit vor dem Unfall noch weiter herabzusetzen. Eine von der Beklagten allenfalls zu vertretende Betriebsgefahr falle gegenüber dem eklatanten Selbstverschulden des Klägers nicht ins Gewicht.
Das Erstgericht ging davon aus, daß der Straßenbahnfahrer den Unfall allein verschuldet habe, und erkannte daher im Sinne des (Haupt-)Begehrens des Klägers.
Das Berufungsgericht hielt eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Lenkers des Straßenbahntriebwagens für angemessen und stellte daher – unter gleichzeitiger Abweisung des Mehrbegehrens – fest, daß die Beklagte dem Kläger für 2/3 aller künftigen Unfallsschäden zu haften habe.
Das Urteil des Berufungsgerichtes wird von beiden Parteien mit Revision angefochten. Die Beklagte beschwert sich darüber, daß sie dem Kläger mehr als die Hälfte seines Schadens zu ersetzen habe; sie macht die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, der Aktenwidrigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und beantragt, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß ihre Haftung auf die Hälfte des künftigen Unfallsschadens des Klägers beschränkt werde, allenfalls das Berufungsurteil aufzuheben und die Rechtssache zu neuerlicher Verhandlung und Entscheidung „an die unteren Instanzen“ zurückzuverweisen. Der Kläger bekämpft den abweisenden Teil der Berufungsentscheidung aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und beantragt, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern.
Der Kläger beantragt, der Revision der Beklagten nicht Folge zu geben; die Beklagte hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Nur die Revision des Klägers ist berechtigt.
Den Entscheidungen der Vorinstanzen liegen folgende wesentliche Sachverhaltsfeststellungen zugrunde:
Die Unfallsstelle liegt im Bereich des östlichen Gehsteiges des Platzes „A*“, unmittelbar nördlich der durch eine Verkehrslichtsignalanlage geregelten Kreuzung mit dem J*ring. Südlich der Unfallsstelle befindet sich auf dem platzartigen Gehsteig unmittelbar neben dessen Kante auf einem u‑förmig gebogenen Rohr das Verkehrszeichen „Einfahrt verboten“ mit der Zusatztafel „Fußgängerzone“; etwa 4 m weiter nördlich steht – rund 70 cm östlich der Gehsteigkante – der Mast einer Fußgängerampel. Nördlich der Unfallsstelle springt der Gehsteig nach Osten zurück; in der Verlängerung der westlichen Gehsteigkante befinden sich hier in einem Abstand von etwa 5 m zwei betonierte Blumenschalen, hierauf eine Sitzbank und dann wieder Blumenschalen. Im Bereich der Unfallsstelle verlaufen knapp 60 cm westlich der Gehsteigkante die Gleisanlagen der G* Verkehrsbetriebe (Beklagte). Beim Vorbeifahren eines Straßenbahntriebwagens der von H* K* zur Unfallszeit gelenkten Type ist jene Kante, an welcher die vordere Abschrägung des Triebwagens in dessen rechte Flanke übergeht, nur 12 bis 15 cm vom Randstein entfernt.
Am Unfallstag standen der Kläger, sein Schwager E* und ihr Bekannter G* zunächst auf dem Gehsteig südlich der Kreuzung mit dem J*ring, um in Richtung Norden (H*gasse) zu gehen; die Verkehrsampel zeigte rotes Licht. Die drei Personen standen so nebeneinander, daß sich der Kläger ganz links außen (westlich) befand. Als das Grünlicht aufleuchtete , gingen sie zunächst in der gleichen Reihenfolge über den Fußgängerübergang und dann nördlich der Kreuzung weiter in Richtung H*gasse. Im Bereich der Unfallsstelle ging der Kläger ganz am westlichen Gehsteigrand, und zwar so, daß er den linken Arm abgewinkelt und beide Hände in die Hüften gestützt hatte. Er wurde rund 5 m nördlich der Säule der Fußgängerampel von dem nachkommenden, von H* K* gelenkten Straßenbahntriebwagen gestreift und niedergestoßen, wobei er rund 1 m südlich der ersten Blumenschale auf der Fahrbahn zu liegen kam. Der Anstoß an den Kläger erfolgte dort, wo die vordere Abschrägung des Triebwagens in dessen rechte Seitenflanke übergeht. Der Kläger ging nicht auf dem zwischen den Schienen und dem Gehsteig befindlichen Fahrbahnstück.
Der Straßenbahnfahrer H* K* hatte vor dem Unfall vor der gesperrten Kreuzung mit dem J*ring angehalten. Als er das Zeichen „Freie Fahrt“ erhielt, begann er die Kreuzung zu übersetzen, wobei er ein Glockenzeichen gab. Er beschleunigte bis zum nördlichen Fußgängerübergang – das entspricht einer Fahrstrecke von rund 22 m – auf Fahrstufe 4 und erreichte dabei eine Geschwindigkeit von ca. 15 km/h. Im Bereich der Unfallsstelle befanden sich zu diesem Zeitpunkt etwa 15 Personen. H* K* hatte den Kläger zunächst nicht gesehen; er wurde erst durch das Aufschreien einer Frau im Wageninneren auf den Unfall aufmerksam und brachte daraufhin den Triebwagen durch Betätigen der Motorbremse sofort zum Stehen. Hätte der Straßenbahnfahrer in dem Augenblick reagiert, als der Kläger links an dem – 5 m südlich der Unfallsstelle gelegenen – Ampelmast vorbeiging, dann hätte er den Triebwagen noch auf der Höhe der Unfallsstelle anhalten können.
Nach den Dienstanweisungen der G* Verkehrsbetriebe ist im Streckenabschnitt „A*“ – Hauptplatz eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 20 km/h einzuhalten und unabhängig davon die Fahrgeschwindigkeit den Verkehrserfordernissen anzupassen, um Unfälle mit den Fußgängern zu vermeiden.
Rechtlich war das Erstgericht der Auffassung, daß der Lenker des Straßenbahntriebwagens den Unfall allein verschuldet habe. H* K* wäre angesichts der Beschaffenheit seines Fahrzeuges sowie des Umstandes, daß die Straßenbahngeleise im Bereich der Unfallsstelle ganz knapp an den Gehsteig heranreichen, verpflichtet gewesen, auf dem östlichen Gehsteig befindliche Fußgänger mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten und seine Fahrgeschwindigkeit der gegebenen Verkehrslage anzupassen. Das vor dem Passieren der Kreuzung abgegebene Glockenzeichen sei nicht ausreichend gewesen, die Abgabe weiterer Warnsignale nicht erwiesen. Daß H* K* den Kläger erst nach dem Anstoß wahrgenommen und erst dann ein Bremsmanöver eingeleitet habe, beweise seine mangelnde Aufmerksamkeit. Anhaltspunkte für ein Mitverschulden des Klägers seien nicht vorhanden, zumal der Kläger vor dem Unfall den Gehsteig nicht verlassen habe und insbesondere nicht auf die Fahrbahn getreten sei. Daß er den Mast der Fußgängerampel auf der linken Seite passiert habe und dann weiter mit abgewinkelten Armen an der linken Gehsteigkante gegangen sei, könne ihm nicht als Verschulden angelastet werden.
Das Berufungsgericht billigte die Ausführungen des Erstgerichtes über das Verschulden des Straßenbahnfahrers H* K* am gegenständlichen Unfall; es machte aber auch dem Kläger ein schuldhaftes Verhalten zum Vorwurf: Dem Kläger hätte bei Anwendung auch nur geringer Aufmerksamkeit auffallen müssen, daß in seiner Gehrichtung auch mit Straßenbahnen zu rechnen war, wobei der geringe Abstand der Geleise vom Gehsteigrand eine offenkundige Gefahr für die dort befindlichen Fußgänger bildete. Der Kläger wäre daher verpflichtet gewesen, diesen Umständen Rechnung zu tragen und einen entsprechenden Abstand vom Rand des Gehsteigs einzuhalten. Werde allerdings berücksichtigt, daß der Kläger als italienischer Staatsbürger mit den örtlichen Verhältnissen in G* nicht vertraut war, während der Umstand, daß sich der Unfall in der G* Fußgängerzone ereignete, eine zusätzliche Belastung des Straßenbahnfahrers bedeute, dann erscheine eine Schadensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Lasten der Beklagten angemessen.
In ihrer Revision wendet sich die Beklagte zunächst aus den Revisionsgründen des § 503 Z 2 und 3 ZPO gegen die Feststellungen der Vorinstanzen über die Gehweise des Klägers vor dem Unfall, weil sich daraus in keiner Weise ergebe, ob der Kläger tatsächlich so lange am äußersten rechten Gehsteigrand ging, daß H* K* genug Zeit gehabt hätte, diese Gehweise zu erkennen und seinen Triebwagen rechtzeitig abzubremsen. Da sich die Rechtsmittelwerberin in diesem Zusammenhang aber auf die Behauptung beschränkt, die Gehweise des Klägers sei „keineswegs erschöpfend geklärt“ worden, ohne konkret anzuführen, inwiefern dem Berufungsgericht hier ein Verfahrensmangel oder eine Aktenwidrigkeit unterlaufen wäre, ist auf dieses Vorbringen nicht weiter einzugehen.
Auch den Rechtsausführungen der Beklagten, mit welchen sie die Annahme eines gleichteiligen Verschuldens beider Unfallsbeteiligten und damit eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 1 anstrebt, kommt keine Berechtigung zu; vielmehr erweist sich die Rechtsrüge des Klägers aus nachstehenden Erwägungen als begründet:
Nach den insoweit unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanzen hat sich der gegenständliche Unfall bereits innerhalb der – durch das Verbotszeichen „Einfahrt verboten“ und die Zusatztafel „Fußgängerzone“ gekennzeichneten –G* Fußgängerzone ereignet; diesem Umstand kommt aber nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes entscheidende Bedeutung zu: Die ausdrückliche Widmung eines innerstädtischen Bereiches als Fußgängerzone bedeutet, wie der Kläger mit Recht hervorhebt, daß dieser Bereich nach Möglichkeit von jedem Fahrzeugverkehr freigehalten werden und primär der Benützung durch Fußgänger dienen soll. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger angesichts dieser Widmung des Unfallsbereiches überhaupt zur Benützung des Gehsteiges verpflichtet war, zumal der Gesetzgeber durch die – allerdings erst mit 1. Jänner 1977 in Kraft getretene und daher zur Unfallszeit noch nicht geltende – Bestimmung des § 76 a Abs. 7 StVO jetzt ausdrücklich klargestellt hat, daß Fußgänger in Fußgängerzonen auch die Fahrbahn benützen dürfen (sofern sie dabei den erlaubten Fahrzeugverkehr nicht mutwillig behindern). Selbst wenn man nämlich eine solche Verpflichtung des Klägers für die Unfallszeit – mangels einer abweichenden gesetzlichen Regelung – (noch) bejahen wollte, darf der Umstand, daß sich der Unfall in einem ausdrücklich den Fußgängern vorbehaltenen Bereich ereignet hat, in welchem, wenn überhaupt, nur mit geringem Fahrzeugverkehr zu rechnen war, bei der rechtlichen Beurteilung nicht außer acht gelassen werden. Daß ein Fußgänger in einem solchen Bereich mit abgewinkelten Armen ganz am Gehsteigrand geht, kann angesichts der besonderen Zweckwidmung einer Fußgängerzone keinesfalls den Vorwurf eines schuldhaften Fehlverhaltens rechtfertigen; es war vielmehr im konkreten Fall ausschließlich Sache des Straßenbahnfahrers H* K*, die im Gefahrenbereich befindlichen Personen durch Abgabe entsprechender Schallzeichen auf das Herannahen seines Straßenbahnzuges aufmerksam zu machen und seine Fahrgeschwindigkeit so zu wählen, daß eine Gefährdung dieser Personen ausgeschlossen war. Daß H* K* dieser Verpflichtung zuwidergehandelt und so den Unfall verschuldet hat, wird von der Beklagten im Revisionsverfahren nicht mehr bestritten; das von ihr behauptete und auch vom Berufungsgericht angenommene Mitverschulden des Klägers ist aber aus den angeführten Erwägungen zu verneinen.
Die Revision der Beklagten mußte daher erfolglos bleiben; hingegen war der Revision des Klägers Folge zu geben und das angefochtene Urteil im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern.
Die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz der Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf §§ 41, 50 ZPO.
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