OGH 2Ob214/77

OGH2Ob214/7710.11.1977

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Wittmann als Vorsitzenden und durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piegler und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fedra, Dr. Reithofer und Dr. Scheiderbauer als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*, Angestellte, *, vertreten durch Dr. Gerald Stenitzer, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei A*aktiengesellschaft, *, vertreten durch Dr. Werner Thurner, Rechtsanwalt in Graz, wegen Schadenersatzes und Feststellung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 12. Juli 1977, GZ 1 R 111/77‑38, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 18. Mai 1977, GZ 23 Cg 145/76‑31, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1977:0020OB00214.77.1011.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Beklagte ist schuldig, der Klägerin die mit S 4.389,12 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (davon S 325,12 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Am 26. April 1975 um etwa 17 Uhr 30 ereignete sich auf der Kreuzung E*gasse‑H*gasse im Ortsgebiet von G* ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Lenkerin, Halterin und Eigentümerin eines Personenkraftwagens Puch 500 D und * R* als Lenker eines bei der Beklagten haftpflichtversicherten Lastkraftwagens Ford Transit beteiligt waren. Zur Zeit des Unfalles waren die E*gasse und die H*gasse gleichrangig. * R* war nicht im Besitze eines Führerscheines. Bei dem Unfall entstand der Klägerin Personen- und Sachschaden, Die Verletzungen der Klägerin haben Dauerfolgen nach sich gezogen. * R* wurde wegen dieses Unfalles des Vergehens nach § 88 Abs 4, 1. Fall StGB rechtskräftig schuldig gesprochen. Das Strafgericht legte ihm zur Last, daß er den der Klägerin nach § 19 Abs 1 StVO zukommenden Rechtsvorrang verletzt habe.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten als Haftpflichtversicherer Zahlung von S 241.000 samt Anhang sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden aus dem Unfall vom 26. April 1975, und zwar mit der Beschränkung auf die sich aus dem Haftpflichtversicherungsvertrag ergebende Versicherungssumme.

Die Beklagte wendete im wesentlichen ein, die Klägerin treffe ein Mitverschulden im Ausmaß von einem Drittel, weil sie zu spät auf das Fehlverhalten des R* reagiert habe.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagte, ausgehend von einem Alleinverschulden des R*, zur Zahlung von S 217,627,04 samt Anhang und erkannte im Sinne des Feststellungsbegehrens. Das Mehrbegehren von S 23.372,96 samt Anhang wies es ab.

Die Berufung der Beklagten, mit der unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht und mit der Abänderung auf der Grundlage einer Verschuldensteilung im Verhältnis 2 : 1 zu ihren Lasten angestrebt wurde, blieb erfolglos.

Gegen das bestätigende Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision der Beklagten mit dem Antrag, es dahin abzuändern, daß der Klägerin nur S 138.496 samt Anhang zuerkannt, die Haftung der Beklagten nur für zwei Drittel künftiger Unfallsschäden festgestellt und das Mehrbegehren abgewiesen werde. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt, die Revision wegen Unbestimmtheit der Anfechtungserklärung zu verwerfen oder der Revision nicht Folge zu geben.

Ein Anlaß, die Revision zu verwerfen, besteht nicht. Die Revisionserklärung lautet zwar dahin, daß das Urteil des Berufungsgerichtes seinem ganzen Inhalte nach angefochten werde, während der Revisionsantrag weniger weitgehend ist. Nach § 474 Abs 2 ZPO ist in den Fällen des § 471 Z 2 und 3 ZPO die Berufung zu verwerfen (zurückzuweisen). Diese Bestimmungen sind nach § 513 ZPO auch auf die Revision anzuwenden. Die hier in Betracht kommende Norm der Z 3 des § 471 ZPO behandelt die Fälle, daß in der Berufungsschrift das Urteil nicht angegeben ist, wider welches Berufung erhoben worden ist, daß die Berufungsschrift keinen oder keinen bestimmten Berufungsantrag enthält oder daß die Berufungsgründe weder ausdrücklich noch durch deutliche Hinweisung einzeln angeführt sind. Daraus ergibt sich, daß das Gesetz der Berufungs- bzw. Revisionserklärung für sich allein keine solche Bedeutung beimißt wie den Berufungs-(bzw. Revisions-)Anträgen und -Gründen. Da ein bestimmter Revisionsantrag aber vorliegt, muß eine darüber hinausgehende Revisionserklärung grundsätzlich unbeachtlich bleiben (Fasching IV S. 59). Sie kann daher nicht zur Zurückweisung (Verwerfung) der Revision führen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht gerechtfertigt.

Im Revisionsverfahren ist nur mehr die Frage eines Mitverschuldens der Klägerin strittig. Diesbezüglich liegen der Entscheidung des Berufungsgerichtes folgende Feststellungen zugrunde:

Die 5 m breite E*gasse verläuft in Nord‑Süd‑Richtung und wird von der H*gasse im rechten Winkel gequert. Die Sicht vom östlichen Fahrbahnast der H*gasse in den südlichen Bereich der E*gasse (Richtung, aus der R* gekommen ist) ist auf etwa 150 bis 200 m gegeben, wenn sich das Auge des Beobachters rund 2 m östlich, die Fahrzeugfront 1 m östlich von der gedachten Verlängerung des östlichen Fahrbahnrandes der E*gasse befindet. Vorher besteht eine Sichtbehinderung durch einen lebenden Zaun an der südöstlichen Kreuzungsecke.

Die Klägerin fuhr mit ihrem Personenkraftwagen in der H*gasse aus Richtung Osten gegen die Kreuzung zu und hielt zuletzt eine Geschwindigkeit von 15 km/h ein. Sie schaltete vor der Kreuzung den Blinker ein und wollte nach rechts in die E*gasse einbiegen. R* befuhr mit dem Lastkraftwagen Ford Transit die E*gasse und näherte sich aus Richtung Süden der Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/h. Er wollte diese Kreuzung in gerader Richtung durchfahren. Im Kreuzungsbereich prallte er mit dem Lastkraftwagen, ohne gebremst oder sonst reagiert zu haben, gegen den von der H*gasse nach rechts in die E*gasse einbiegenden Puch 500 D der Klägerin.

Bei voller Bremsbereitschaft und Beobachtung des aus der südlichen Richtung auf der E*gasse fließenden Verkehrs hätte die Klägerin den von R* gelenkten Lastkraftwagen sehen und sie hätte ihr Fahrzeug noch vor dem auf der östlichen Fahrbahnhälfte der E*gasse gelegenen Unfallspunkt anhalten können (Bremsstrecke 1,30 m). Bei Zubilligung einer Reaktionszeit von 0,75 Sekunden (entspricht einem Weg von 3,10 m) hätte hingegen die Anhaltestrecke 4,40 m betragen. In diesem Falle wäre ein Anhalten der Klägerin mit ihrem Puch 500 D vor dem Unfall nicht mehr möglich gewesen.

Diesen Sachverhalt beurteilte das Berufungsgericht – im wesentlichen in Übereinstimmung mit dem Erstgericht rechtlich dahin, daß eine Schadensteilung nicht stattzufinden habe. Daß dem R* eine schwerwiegende Vorrangverletzung anzulasten sei, ergebe sich aus seiner für das Zivilgericht bindenden Verurteilung. Weiters sei ihm auch ein Verstoß gegen § 20 StVO zum Vorwurf zu machen, weil er in Anbetracht der begrenzten Sichtmöglichkeit auf den aus der H*gasse kommenden, ihm gegenüber Vorrang genießenden Verkehr eine weit überhöhte Geschwindigkeit eingehalten habe. Die Klägerin sei nicht verpflichtet gewesen, wegen der schlechten Sicht nach links anhaltebereit an die Kreuzung heranzufahren; sie habe nicht damit rechnen müssen, daß jemand ohne Sicht nach rechts von links in die Kreuzung einfährt. Eine Beobachtung nach links sei von der Klägerin nicht zu verlangen. Sie habe Sichtmöglichkeit nach links erst unmittelbar vor der Kreuzung und zu einer Zeit gehabt, in der sie auf den von rechts kommenden Verkehr habe achten müssen, um allenfalls ihrer Wartepflicht nachkommen zu können. Abgesehen davon hätte sie auch bei vorheriger Beobachtung nach links den Unfall nicht verhindern können, weil ihr eine Reaktionszeit von 0,75 Sekunden zuzubilligen sei, was eine Anhaltestrecke von 4,40 m ergeben hätte; sie hätte ihr Fahrzeug also vor dem Unfallspunkt nicht anhalten können.

Aber selbst dann, wenn man der Klägerin eine geringfügige Reaktionsverzögerung unterstellen müßte, müßte dies gegenüber dem schweren Verschulden des R* außer Betracht bleiben. Es ergebe sich somit kein Anhaltspunkt für eine Ausgleichspflicht nach § 11 EKHG.

Dem gegenüber vertritt die Beklagte nach wie vor die Ansicht, es wäre ein Mitverschulden der Klägerin, und zwar im Ausmaß von einem Drittel, anzunehmen gewesen; eben weil die Kreuzung äußerst unübersichtlich sei, hätte sich die Klägerin ihr bremsbereit nähern müssen, wobei sie zur aufmerksamen Beobachtung des von links kommenden Verkehrs verpflichtet gewesen wäre. Die Unterlassung dieser Vorsicht begründe ein keineswegs zu vernachlässigendes Mitverschulden.

Dem kann nicht beigepflichtet werden. Wie der Oberste Gerichtshof schon mehrfach ausgesprochen hat, ist der im Vorrang befindliche Verkehrsteilnehmer nicht verpflichtet, seine zulässige Geschwindigkeit allein wegen der Annäherung an eine Kreuzung mit einer Straße ohne Vorrang oder deshalb herabzusetzen, weil die Querstraße schlecht einzusehen ist (ZVR 1976/97, 2 Ob 283/76 u.a.). Bei schlechten Sichtverhältnissen ist vielmehr der im Nachrang befindliche Kraftfahrer verpflichtet, an einer Kreuzung seine Geschwindigkeit bis zu einem „Vortasten“ herabzumindern, um den Vorrang eines von rechts kommenden Fahrzeuges wahren zu können (ZVR 1975/177). Er hat seine Fahrweise eben darauf einzurichten, den Vorrang dort wahrnehmen zu können, wo er nach den konkreten örtlichen und Verkehrsverhältnissen mit von rechts kommenden Fahrzeugen rechnen muß (ZVR 1970/22, ZVR 1971/171). Wenn auch der nach der Rechtsregel Vorfahrtberechtigte den für ihn wahrnehmbaren, von links kommenden Verkehr nicht unbeachtet lassen darf, so könnte ein Mitverschulden des Vorfahrtberechtigten doch nur dann angenommen werden, wenn er den von links kommenden Verkehrsteilnehmer als Gefahr erkennen und seine eigene Verhaltensweise der dadurch entstandenen Verkehrslage anpassen konnte, bevor er seine besondere Aufmerksamkeit dem übrigen Verkehr zuwenden mußte (vgl. ZVR 1962/225). Nach den Feststellungen hatte die Klägerin Sicht nach links aber erst unmittelbar vor dem Einfahren in die Kreuzung gehabt, als sie ihre Aufmerksamkeit einem allfälligen von rechts kommenden Verkehr zuwenden mußte.

Die Vorinstanzen haben demzufolge ein Mitverschulden der Klägerin mit Recht nicht angenommen und mit Rücksicht auf das Alleinverschulden des R* eine Ausgleichspflicht der Klägerin im Sinne des § 11 EKHG abgelehnt.

Demzufolge mußte der Revision der Beklagten ein Erfolg versagt bleiben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41 und 50 ZPO.

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