European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1977:0020OB00085.77.0922.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung zu lauten hat:
Die Beklagten haben zur ungeteilten Hand der Klägerin 5.886,40 S samt 4 % Zinsen seit 17. Jänner 1975 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung von weiteren 5.886,40 S wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Rechtsstreites werden gegenseitig aufgehoben.
Entscheidungsgründe:
Am 8. Juni 1974 um ungefähr 9 Uhr fuhr die Klägerin mit ihrem PKW auf der A*straße in G* ostwärts, während sich der Zweitbeklagte mit seinem PKW in der R*Straße von Norden her der dieser gegenüber vorrangigen A*straße näherte. Nachdem das Fahrzeug der Klägerin, welche in die nach Osten führende Z*straße einzubiegen beabsichtigte, kurz zum Stehen gebracht, dann aber wieder in Gang gesetzt worden war, kam es zum Zusammenstoß mit dem Wagen des Zweitbeklagten, der nach einer Zeit des Stillstandes gleichfalls den Kreuzungsbereich erreicht hatte. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt.
Die Klägerin begehrte zuletzt Schadenersatz im Betrage von 11.772,80 S samt Anhang wegen Alleinverschuldens des Zweitbeklagten.
Die Beklagten stellten die Klagsforderung der Höhe nach außer Streit, beantragten jedoch Klagsabweisung wegen Alleinverschuldens der Klägerin.
Das Erstgericht sprach der Klägerin – auf Grund einer Verschuldensteilung 4 : 1 zu ihren Lasten – 2.354,56 S samt Anhang zu und wies das Mehrbegehren ab.
Das Berufungsgericht wies das gesamte Klagebegehren ab.
Die Klägerin erhebt Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagten beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist teilweise berechtigt.
Die Untergerichte sind von folgenden Feststellungen aus gegangen:
Im Mündungsbereich der R*Straße in die Kreuzung mit der A*straße und Z*straße befindet sich ein Zebrastreifen. Die R*Straße hat dort eine Breite von 7,60 m. 15 m westlich des östlichen Straßenrandes der R*Straße befindet sich ein Zebrastreifen, der die A*straße überquert. Diese hat weiter westlich auf Höhe des Vorrangschildes eine Breite von 10,90 m. Aus Richtung R*Straße verbreitert sich die gegenständliche Kreuzung nach der Einmündung der Z*straße in Richtung Osten um 4,50 m.
Die A*straße setzt sich, von Westen kommend, in Richtung Süden (d.h. Stadtmitte) in einer im Kreuzungsbereich weit geschwungenen Kurve fort. Im Mündungsbereich der Kreuzung hat der nach Süden führende Teil der A*straße eine Breite von 8 m; diese Straße ist als eine im Kreuzungsbereich ihren Verlauf ändernde Vorrangstraße gekennzeichnet (Verkehrszeichen § 53/9 a StVO 1960 mit Zusatztafel), während die einmündenden Straßen (R*Straße und Z*straße) jeweils als nachrangige Straßen (Verkehrszeichen § 50/5 StVO 1960) gekennzeichnet sind. Die gedachte Mittellinie liegt im Unfallsbereich in Fahrtrichtung des Beklagten 11,20 m östlich des östlichen Zebrastreifens, der über die A*straße führt.
Die Klägerin wollte die Kreuzung in östlicher Richtung überqueren und in die Z*straße einfahren. Sie blieb 8 m östlich des westlichen Zebrastreifens der A*straße und 14 m südlich des Zebrastreifens über die R*Straße stehen, um einem 30 m südlich von rechts kommenden unbekannten PKW, der ebenfalls in die Z*straße einbiegen wollte, die Vorfahrt zu überlassen. Die Klägerin sah, daß der Zweitbeklagte mit seinem PKW 5,50 m mit der Front südlich der südlichen Begrenzung des Zebrastreifens über die R*Straße und mit seiner linken Flanke 3,60 m westlich des östlichen Fahrbahnrandes der R*Straße anhielt. Die Klägerin blieb in dieser Position solange stehen, bis der aus Süden kommende PKW in die Z*straße eingefahren war, also 3 bis 4 Sekunden, und fuhr sodann, ohne nochmals auf den Zweitbeklagten zu achten, geradeaus 1,50 m an, wobei sie für das Wiederanfahren etwa 1 Sekunde benötigte. Dabei stieß der Zweitbeklagte, der die gegenständliche Kreuzung in Richtung Süden geradeaus überfahren wollte, mit seinem PKW gegen die Flanke des linken Vorderrades des PKWs der Klägerin, nachdem der Zweitbeklagte aus seiner Anhalteposition rund 1,85 Sekunden vor der Anfahrbewegung der Klägerin und somit 2,85 Sekunden vor dem Anprall mit einer Beschleunigung von 2,5 m/sec2 losgefahren war und die 8,50 m lange Strecke bis zum Unfallspunkt, zuerst auf 4,40 m auf 17 km/h beschleunigend (1,85 Sekunden), und, als er die Anfahrbewegung der Klägerin wahrnahm, seinen PKW verzögernd, in einer Teilanhaltestrecke von 3,80 m in 1 Sekunde in die Unfallsposition gelangte. Die Anfahrbewegung der Klägerin war für den gegenständlichen Unfall kausal.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, daß die Klägerin, um den aus Süden kommenden vorrangigen PKW passieren zu lassen, ihr Fahrzeug zum Stillstand bringen mußte und damit auf ihren Vorrang gegenüber dem Zweitbeklagten verzichtete. Ihr Wiederanfahren ohne neuerliche Beobachtung des Zweitbeklagten stelle die überwiegende Schuldkomponente am Zustandekommen des Unfalls dar. Da jedoch die Klägerin erst kurz (1,85 Sekunden) in der bereits tief in der Kreuzung gelegenen Position angehalten hatte, als der Zweitbeklagte wiederum anfuhr und nur ganz knapp am Wagen der Klägerin vorbeifahren wollte, sei für den Zweitbeklagten eine unklare Verkehrslage gegeben gewesen, in der er zumindest einen Blickkontakt mit der Klägerin aufnehmen oder ein Hupsignal abgeben hätte müssen. Dies vor allem wegen der knappen beabsichtigten Vorbeifahrlinie und deshalb, weil er damit hätte rechnen müssen, daß die Klägerin, nachdem der für sie vorrangige PKW die Kreuzung passiert hatte, ohne auf den Zweitbeklagten zu achten, wieder losfahren könnte.
Das Berufungsgericht meinte aber, der Zweitbeklagte habe wegen des Vorrangverzichtes der Klägerin darauf vertrauen können, daß diese vor ihrem Wiederanfahren auch auf den Verkehr in der R*Straße Rücksicht nehmen und demnach das Passieren seines Fahrzeuges abwarten werde. Die Klägerin treffe daher das Alleinverschulden.
Die Revisionswerberin bringt vor, das Gesetz schreibe ausdrücklich vor, daß der Vorrangverzicht nicht nur durch ein bloßes Anhalten, sondern durch ein ganz bestimmtes Zeichen, das für den Nachrangigen deutlich erkennbar sein müsse, ersichtlich zu machen sei. Das bloße Anhalten in einer Kreuzung gelte sicherlich noch nicht als Vorrangverzicht, da im § 19 Abs. 8 StVO 1960 dieser Fall ausdrücklich geregelt sei. Dort heiße es nämlich, daß das Anhalten von Fahrzeugen außer von Schienenfahrzeugen an Haltestellen als Verzicht gelte. Kraft Umkehrschlusses ergebe sich daraus eindeutig, daß ein Anhalten, das nicht an einer Haltestelle erfolge und ohne besonderes Zeichen für den Wartepflichtigen, auf keinen Fall als Vorrangverzicht gewertet werden könne. Darüber hinaus müsse zweifellos die Frage des Vorrangverzichtes von der gesamten Verkehrssituation her geprüft werden. Der Zweitbeklagte habe sehen müssen, daß die Klägerin nicht seinetwegen angehalten habe und daher auf ihren Vorrang nicht verzichtet habe.
Zur Zeit des gegenständlichen Unfalls (am 8. 6. 1974) lautete die hier zur Anwendung kommende Gesetzesstelle: „Der Lenker eines Fahrzeuges darf auf den Vorrang verzichten. Der Verzicht ist dem Wartepflichtigen deutlich zu machen; Anhalten von Fahrzeugen, außer von Schienenfahrzeugen in Haltestellen, gilt als Verzicht.“ Es war also auch damals – entgegen der Auffassung der Revisionswerberin – nicht zweifelhaft, daß Anhalten von Fahrzeugen als Verzicht auf den Vorrang gelte, und zwar auch dann, wenn der im Vorrang befindliche Kraftfahrer lediglich in Erfüllung seiner eigenen Wartepflicht einem Dritten gegenüber anhielt (2 Ob 95/63 = EvBl 1963/314 = ZVR 1963/260; 2 Ob 269/71).
Da beide Fahrzeuge anhielten, hatte keines von ihnen den Vorrang. Eine Regelung, welches Fahrzeug in einem solchen Fall zuerst anfahren darf, fehlt im Gesetz. Für stehende Fahrzeuge kommt eine Anwendung der für fahrende („kommende“) (§ 19 Abs. 1 StVO 1960) Fahrzeuge gedachten Vorrang-(bzw. Rechts-)regel nicht in Betracht. Der sonach für beide Lenker unklaren Verkehrslage konnte nur durch gegenseitige Kontaktaufnahme abgeholfen werden, was aber diesfalls keiner der beiden Lenker getan hat. Es ist ihnen daher ein gleichteiliges Verschulden anzulasten.
Die gegenseitige Aufhebung der Kosten aller Instanzen beruht auf §§ 43 Abs. 1, 50 ZPO.
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