OGH 2Ob96/77

OGH2Ob96/7712.5.1977

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Wittmann als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Piegler, Dr. Fedra, Dr. Dienst und Dr. Scheiderbauer als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F*, Privater, *, vertreten durch Dr. Reinhard Hohenberg, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagten Parteien 1.) E*, Elektriker, *, 2.) Firma A* Gesellschaft mbH, *, 3.) A*aktiengesellschaft, *, sämtliche vertreten durch Dr. Werner Thurner, Rechtsanwalt in Graz, wegen S 25.700,-- s.A. und Feststellung infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 3. Februar 1977, GZ. 3 R 23/77‑22, womit infolge Berufung der klagenden Partei und der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 2. November 1976, GZ. 10 Cg 157/76‑17, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1977:0020OB00096.77.0512.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger ist schuldig, den Beklagten die mit S 3.618,06 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (davon S 223,56 Umsatzsteuer und S 600,-- Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Am 16. Oktober 1974 ereignete sich um 6 Uhr 50 auf der Landesstraße * in * ein Verkehrsunfall. Der mit seinem Moped in nördlicher Richtung fahrende Kläger fuhr nach Passieren einer Brücke auf einen in derselben Richtung fahrenden, vom Erstbeklagten gelenkten Kombiwagen auf. Er kam dadurch zum Sturz und wurde schwer verletzt. Die Zweitbeklagte war Halter, die Drittbeklagte Haftpflichtversicherer dieses Kombiwagens.

Der Kläger, der ein Eigenverschulden im Ausmaß von 50 % zugesteht, verlangt von den Beklagten zur ungeteilten Hand Zahlung von S 25.700,-- s.A. (das ist die Hälfte eines Schmerzengeldbetrages von S 48.400,-- sowie des Sachschadens von S 3.000,--) und die Feststellung der Haftung der Beklagten „für die Folgen aus dem Unfallsereignis vom 16. Oktober 1974“ , und zwar zur Hälfte des jeweiligen Ersatzanspruches, die Drittbeklagte beschränkt auf die Deckungssumme des Haftpflichtversicherungsvertrages. Er stützt sich in erster Linie auf die Bestimmungen des EKHG und hilfsweise auf ein Mitverschulden des Erstbeklagten. Dieser sei in einer relativ unübersichtlichen Rechtskurve ohne zwingenden Grund stehengeblieben. Wäre der Erstbeklagte nicht verkehrswidrig stehengeblieben, hätte sich der Unfall nicht ereignet.

Die Beklagten stellten die behaupteten Schadensbeträge der Höhe nach außer Streit, beantragten jedoch Abweisung des Klagebegehrens mit der Behauptung, der Unfall sei nur auf grobe Unaufmerksamkeit des Klägers zurückzuführen. Das vom Erstbeklagten gelenkte Fahrzeug sei im Zeitpunkt des Zusammenstoßes nicht gestanden, sondern in langsamer Fahrt gewesen. Das Einhalten eines Schritttempos sei im Hinblick auf die geringe Fahrbahnbreite und wegen eines entgegenkommenden Personenkraftwagens erforderlich gewesen. Eine Haftung der Beklagten nach dem EKHG sei nicht gegeben, weil das grobe Verschulden des Klägers auch diese Haftung ausschließe.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagten, ausgehend von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu Lasten des Klägers, zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 12.850,-- s.A. und stellte fest, daß die Beklagten dem Kläger zur ungeteilten Hand für alle Folgen aus dem Unfall bis zu 25 % des jeweiligen Ersatzanspruches, die Drittbeklagte jedoch mit der Beschränkung auf den bestandenen Haftpflichtversicherungsvertrag, haften. Das Leistungsmehrbegehren wies es ab. Eine ausdrückliche Abweisung des Feststellungsmehrbegehrens unterblieb offenbar nur aus Versehen. Dabei ging das Erstgericht von folgenden Feststellungen aus:

Zur Zeit des Unfalles herrschte diesiges Wetter, und die Fahrbahn war naß. An der Unfallstelle ist die asphaltierte Fahrbahn 4,60 m breit. Für die Beurteilung des Fahrverhaltens der Beteiligten bedeutsame Verkehrszeichen waren nicht vorhanden. Die Unfallstelle befindet sich im Freilandgebiet. Aus der Anfahrtrichtung des Klägers ist aus einer Entfernung von etwa 80 m Sicht auf die Unfallstelle zu erlangen. Bei Annäherung an die spätere Unfallstelle befuhr der Kläger – in seiner Fahrtrichtung gesehen – eine Rechtskurve. Vom Ende dieser Rechtskurve bis zur Unfallstelle verläuft die Straße etwa 42 m geradlinig. Auch nach der Unfallstelle verläuft sie weiterhin etwa 100 m geradlinig.

Sowohl der Kläger als auch der Erstbeklagte befuhren die Landesstraße * von Süden kommend in Richtung Norden. Etwa 30 m südlich der Unfallstelle befindet sich das Ende einer Brücke. Als der Erstbeklagte diese Brücke mit dem Kombiwagen passiert hatte, kam ihm ein Personenkraftwagen entgegen, der von einem gewissen G* F* gelenkt wurde. Sowohl F* als auch der Erstbeklagte waren damals bei demselben Arbeitgeber beschäftigt. F* gab dem Erstbeklagten ein Lichtzeichen. Er wollte ihm etwas mitteilen und ihn zum Stehenbleiben veranlassen. Der Erstbeklagte verlangsamte seine Fahrt, sodaß die Begegnung der beiden Fahrzeuge im Schritttempo erfolgte. Der Erstbeklagte veränderte seine Fahrlinie nicht in der Art und Weise, daß er zum Zweck des Stehenbleibens an den rechten Straßenrand heranfuhr. Er gab auch kein Blinkzeichen.

Der Kläger, der mit einer Geschwindigkeit von etwa 40 km/h hinter dem Kombiwagen des Erstbeklagten fuhr, sah die beiden, die Straße versperrenden Fahrzeuge erstmals auf eine Entfernung von 30 bis 40 m südlich der späteren Unfallstelle. Er leitete eine Vollbremsung ein, geriet ins Schleudern und prallte gegen den im Schritttempo vor ihm fahrenden Kombiwagen. Ein Vorbeikommen an den beiden die Straße versperrenden Fahrzeugen war nicht möglich. Der Kläger hätte die Möglichkeit gehabt, die Fahrzeuge schon aus größerer Entfernung, auf etwa 80 m vor dem Unfallspunkt, zu sehen und unfallverhütend zu wirken. Bei zügiger Weiterfahrt des Erstbeklagten wäre dieser Auffahrunfall nicht eingetreten, da für den Kläger eine längere Anhaltestrecke vorgelegen wäre.

Die Unfallverletzungen des Klägers haben Dauerfolgen nach sich gezogen.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, daß beide Teile ein Verschulden treffe, daß aber das des Klägers überwiege. Dieser sei nicht auf Sicht gefahren und habe das vor ihm liegende Straßenstück trotz vorhandener Möglichkeit nicht schon aus größerer Entfernung beobachtet. Das Mitverschulden des Erstbeklagten bestehe darin, daß er den von ihm gelenkten Kombiwagen – wenn auch allmählich – abgebremst habe, und zwar nicht etwa verkehrsbedingt, sondern um mit dem Lenker des entgegenkommenden Fahrzeuges Kontakt aufzunehmen. Dieses Verhalten habe den nachkommenden Kläger praktisch unvorbereitet getroffen. Der Erstbeklagte hätte die Begegnung mit einem anderen Fahrzeug in einem Tempo von 25 bis 30 km/h durchführen können, wobei es nicht zum Unfall gekommen wäre.

Die Berufung des Klägers, mit der Abänderung im Sinne des Klagebegehrens angestrebt wurde, blieb erfolglos.

Die Berufung der Beklagten hatte Erfolg. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes mit der Ausnahme der von den Beklagten bekämpften Feststellung, daß der Unfall bei zügiger Weiterfahrt des Erstbeklagten nicht eingetreten wäre. Es änderte das Ersturteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens aus folgenden rechtlichen Erwägungen ab:

Dem Erstbeklagten könne ein Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalles nicht angelastet werden. Die Herabminderung der Geschwindigkeit auf Schritttempo sei angesichts der zu dieser Zeit eintretenden Begegnung mit dem von F* gelenkten Personenkraftwagen geboten gewesen, um ein anstandsloses Passieren der Fahrzeuge auf der im Unfallsbereich engen Fahrbahn zu ermöglichen. Darin sei ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 21 Abs. 1 StVO nicht zu erblicken. Ein solcher läge nur vor, wenn das Abbremsen jäh und für den Lenker eines nachfolgenden Fahrzeuges überraschend vorgenommen werde. Hiefür habe aber das Beweisverfahren keine Anhaltspunkte ergeben. Mit Rücksicht auf das Alleinverschulden des Klägers seien die Beklagten nicht zum Ersatz des dem Kläger entstandenen Schadens heranzuziehen.

Dagegen richtet sich die aus den Revisionsgründen der Aktenwidrigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene Revision des Klägers mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichtes im Sinne des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteiles oder Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung beantragt.

Die Beklagten beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht gerechtfertigt.

Zum Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit wird vorgebracht, die Ausführungen des Sachverständigen Dipl.‑Ing. M* und die Feststellungen des Erstgerichtes stünden im krassen Widerspruch zu den „Feststellungen des Berufungsgerichtes“, daß lediglich im Falle einer zügigen Weiterfahrt des vom Erstbeklagten gelenkten Kombiwagens von der Möglichkeit einer Vermeidbarkeit eines Auffahrunfalles gesprochen werden könne. Dem erwähnten Gutachtens seien keine Hinweise für eine solche Schlußfolgerung zu entnehmen. Damit wird der Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit nicht dargetan, denn dieser liegt nur dann vor, wenn die Feststellungen auf aktenwidriger Grundlage gezogen werden, also auf einem bei der Darstellung der Beweisergebnisse unterlaufenen Irrtum, auf einem Formverstoß, der aus den Streitakten selbst erkennbar und behebbar ist, beruhen. Einen solchen Verstoß zeigt die Revision nicht auf. In Wahrheit wendet sie sich nur dagegen, daß das Berufungsgericht aus der von ihm übernommenen Feststellung, daß der Erstbeklagte die Begegnung mit einem anderen Fahrzeug in einem Tempo von 25 bis 30 km/h hätte durchführen können, wobei es nicht zum Unfall gekommen wäre, nicht auf ein Verschulden des Erstbeklagten geschlossen hat, wie dies das Erstgericht getan hat. Damit wird aber die rechtliche Beurteilung der Sache durch das Berufungsgericht bekämpft. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen zum Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, denen ebenfalls Berechtigung nicht zuerkannt werden kann.

Hervorzuheben ist zunächst, daß die Behauptung des Klägers, er sei auf den zum Stillstand gebrachten Wagen des Erstbeklagten aufgefahren, nicht erwiesen wurde. Nach den Feststellungen war der vom Erstbeklagten gelenkte Wagen zur Zeit des Auffahrens in Bewegung. Die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß bei dem festgestellten Sachverhalt auch ein Verstoß des Erstbeklagten gegen die Vorschrift des § 21 Abs. 1 StVO nicht angenommen werden könne, wird in der Revision zwar bekämpft, doch wird hiebei nicht der festgestellte Sachverhalt zugrunde gelegt, daß der Erstbeklagte den Kombiwagen „allmählich“ abgebremst hat und daß ein jähes und für den Kläger überraschendes Bremsen im Beweisverfahren nicht hervorgekommen ist. Der Kläger will ein schuldhaftes Fehlverhalten des Erstbeklagten auch darin erblicken, daß dieser seine Geschwindigkeit auf Schritttempo herabgemindert habe. Der Erstbeklagte sei entgegen der Vorschrift des § 20 Abs. 1, letzter Satz StVO ohne zwingenden Grund so langsam gefahren, daß er den übrigen Verkehr behindert habe. Auch darin kann ihm nicht beigepflichtet werden. Ein Verstoß des Erstbeklagten gegen die genannte Vorschrift kann nicht schon deshalb angenommen werden, weil der Erstbeklagte seine Geschwindigkeit auf Schritttempo vermindert hat, obwohl bei der Fahrbahnbreite von 4,60 m eine Begegnung mit einem anderen Kraftwagen mit einer Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h noch möglich gewesen wäre. Es kommt, da ein zwingender Grund für die Herabsetzung der Geschwindigkeit auf Schritttempo tatsächlich nicht ersichtlich ist, darauf an, ob der Erstbeklagte damit den übrigen Verkehr behindert hat. Eine solche Behinderung liegt aber nicht schon dann vor, wenn infolge Geschwindigkeitsverminderung des vorausfahrenden Fahrzeuges der Lenker eines nachfolgenden Fahrzeuges ebenfalls gezwungen wird, seine Geschwindigkeit vorübergehend herabzusetzen. Bei einem einzelnen Hintermann kann ein Verstoß gegen § 20 Abs. 1, letzter Satz StVO wohl nur bei nennenswerter längerer Behinderung angenommen werden (vgl. dazu Jagusch, Straßenverkehrsrecht 22. Aufl. RZ 47 zu § 3 StVO). Eine solche lag aber nicht vor, denn im vorliegenden Fall hätte es offenbar genügt, wenn der Kläger seinerseits mit einer Verminderung seiner Geschwindigkeit reagiert und mit der Erhöhung seines Tempo die kurze Frist zugewartet hätte, bis der Erstbeklagte an dem von F* gelenkten Wagen vorbeigefahren und der Weg für den Kläger wieder frei gewesen wäre. Dem Erstbeklagten ist somit ein Verstoß gegen eine Verkehrsvorschrift und ein Verschulden nicht anzulasten.

Da es nach § 11 EKHG bei der Beurteilung des Schadenersatzanspruches in erster Linie auf das Verschulden der beteiligten Lenker ankommt (ZVR 1976/236, ZVR 1976/273 u.v.a.), dieses hier aber allein auf Seite des Klägers liegt und sonstige Gründe, die Beklagten zum Schadensausgleich heranzuziehen, nicht gegeben sind, erweist sich die Abweisung des Klagebegehrens als gerechtfertigt.

Demzufolge mußte der Revision ein Erfolg versagt bleiben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41 und 50 ZPO.

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