European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1976:0080OB00239.77.0119.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig der klagenden Partei die mit S 3.014,44 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die Umsatzsteuer von S 178,84 und die Barauslagen von S 600,--) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 7. September 1972 kam es in * auf der *-Brücke zu einem Zusammenstoß zwischen dem vom Zweitbeklagten gelenkten Motorfahrrad und dem von der Klägerin in dieselbe Richtung gelenkten Fahrrad. Die Klägerin wurde dabei verletzt. Der Erstbeklagte ist der Halter und die Drittbeklagte der Haftpflichtversicherer des vom Zweitbeklagten gelenkten Motorfahrrades. Der Zweitbeklagte wurde wegen dieses Unfalles rechtskräftig verurteilt, weil er durch ungenügende Beobachtung der Fahrbahn bzw. Einhalten eines zu geringen Seitenabstandes zum rechten Fahrbahnrand bzw. von der auf der Fahrbahn stehenden Klägerin diese niedergestoßen und verletzt habe.
Die Klägerin begehrt nach mehrfacher Modifizierung des Klagebegehrens – abzüglich eines ihr bereits im Strafverfahren zuerkannten Betrages von S 100,-- – Ersatz eines Schadens von S 153.400,--, und zwar eines Schmerzengeldes von S 150.000,--, eines Kleiderschadens von S 1.000,-- und der Pflegekosten von S 2.500,-- sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden, die der Erst- und Drittbeklagten jedoch mit der Beschränkung auf die Haftungshöchstbeträge nach dem EKHG, die der Erstbeklagten (offensichtlich richtig gemeint: der Drittbeklagten) nur im Rahmen des Haftpflichtversicherungsvertrages. Sie macht Alleinverschulden des Zweitbeklagten geltend, der nicht auf Sicht gefahren, einen zu geringen Seitenabstand eingehalten und kein Warnzeichen gegeben habe.
Die Beklagten wenden ein Mitverschulden der Klägerin zu 3/4 ein. Diese sei zunächst auf dem Gehsteig gegangen und habe links neben dem Gehsteig das Fahrrad geschoben. Plötzlich habe sie das Fahrrad bestiegen, sich damit ohne Beobachtung des nachfolgenden Verkehrs in den fließenden Verkehr eingeordnet, dabei nach links geschwenkt und sei dadurch in die Fahrbahn des Zweitbeklagten gekommen. Dieser habe wegen der geringen Entfernung keine wirksame Abwehrmaßnahme mehr treffen können.
Das Erstgericht sprach der Klägerin einen Betrag von S 86.350,-- s.A. zu, stellte die Haftung der Beklagten zu 7/10 für die künftigen Schäden der Klägerin fest, die der Erst-und Drittbeklagten mit der Beschränkung auf die Haftungshöchstbeträge nach dem EKHG, die der Drittbeklagten überdies mit der Beschränkung auf den Rahmen des Haftpflichtversicherungsvertrages und wies das Leistungsmehrbegehren von S 67.050,-- sowie das Feststellungsmehrbegehren ab.
Dieses Urteil blieb im stattgebenden Teil sowie hinsichtlich der Teilabweisung von S 30.000,-- unangefochten. Das Berufungsgericht änderte es hinsichtlich der Teilabweisung von S 37.050,-- und der Abweisung des Feststellungsmehrbegehrens zu 3/10 dahin ab, daß es der Klägerin einen weiteren Betrag von S 37.050,-- zusprach und die volle Haftung der Beklagten für künftige Schäden der Klägerin feststellte.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten aus den Revisionsgründen des § 503 Z 3 und 4 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes abzuändern.
Die Klägerin stellt den Antrag, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Im Revisionsverfahren ist nur mehr die Schadensaufteilung strittig. Hiezu stellten die Untergerichte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Die *-Brücke ist 13 m breit, gerade und übersichtlich. Zu beiden Seiten der Fahrbahn befinden sich je 2,50 m breite Gehsteige. Zur Unfallszeit herrschte sonniges Wetter. Die Klägerin schob ihr Fahrrad – in Richtung *straße gesehen – am äußersten rechten Fahrbahnrand der Brücke. Es ist nicht erweisbar, ob sie dabei links vom Fahrrad auf der Fahrbahn oder rechts vom Fahrrad am Gehsteigrand ging. Am Scheitelpunkt der Brücke wollte sie ihr Fahrrad wieder besteigen. Möglicherweise blickte sie vorher nach rückwärts, aber nur mit einer Körperwendung nach rechts, so daß sie den nachkommenden Verkehr nicht oder doch nicht ausreichend beobachten konnte. Sie bestieg dann das Fahrrad. Nicht erweisbar ist, ob sie von links mit dem rechten Fuß auf das rechte Pedal oder von rechts mit dem linken Fuß auf das linke Pedal getreten ist. Je nachdem, wie sie das Fahrrad bestiegen hat, machte sie dabei eine geringfügige oder eine deutlichere Bewegung zur Fahrbahninnenseite. Inzwischen näherte sich der Zweitbeklagte mit einer Geschwindigkeit von 30‑35 km/h und einem Abstand zum rechten Gehsteigrand von 80 cm. Kurz vor der Unfallstelle überholte ihn ein PKW, der jedoch so weit nach links ausschwenkte, daß er zum Teil sogar auf die linke Fahrbahnhälfte geriet. Trotzdem fühlte sich der Zweitbeklagte irritiert und behielt seine Fahrlinie bei. Kurz bevor er die Klägerin erreichte, bremste er, stieß jedoch schon nach einer Bremsstrecke von 1,80 m an die Klägerin an, die in diesem Augenblick ihr Fahrrad gerade bestieg oder es soeben bestiegen hatte, jedoch noch nicht in Fahrt begriffen war.
Das Erstgericht erachtete sich hinsichtlich der Fahrweise der Klägerin nicht an die Feststellungen des Strafgerichtes, die Klägerin sei beim Schieben ihres Fahrrades am rechten Fahrbahnrand und nicht auf dem Gehsteig gegangen, nicht gebunden, weil es sich hiebei nicht um ein für den strafgerichtlichen Schuldspruch notwendiges Tatbestandsmerkmal gehandelt habe. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, für den Unfall sei es mitursächlich gewesen, daß die Klägerin eine – für den Mopedlenker nicht ohne weiteres vorhersehbare – Bewegung nach links gemacht habe, als sie das Fahrrad bestieg. Damit habe sie beim Einordnen in den fließenden Verkehr den dem Zweitbeklagten gemäß § 19 Abs. 6 StVO zukommenden Vorrang verletzt. Gehe man von der für die Klägerin günstigeren Variante aus, daß sie von vorneherein auf der Fahrbahn gegangen sei, so sei ihr dabei nur ein geringes Verschulden von etwa 10 % anzulasten. Gehe man davon aus, daß die Klägerin das Fahrrad vom Gehsteig herab bestiegen habe und dabei nach links in die Fahrspur des Beklagten gelangt sei, sei ihr Verschuldensanteil größer und etwa gleich groß wie das des Zweitbeklagten anzunehmen. Da sich die Fahrweise der Klägerin nicht feststellen lasse, sei von den beiden Verschuldensquoten von 10 und 50 % die Mitte, somit 30 %, als Verschuldensanteil der Klägerin anzunehmen. Das Erstgericht sprach demnach der Klägerin 70 % des mit S 123.500,-- angenommenen Gesamtschadens, das sind abzüglich des Zuspruches von S 100,--- im Strafverfahren S 86.350,-- zu und beschränkte die Haftung der Beklagten auf 7/10 für künftige Schäden der Klägerin.
Das Berufungsgericht billigte im Rahmen der Mängelrüge die vom Erstgericht abgelehnte Bindung an das strafgerichtliche Erkenntnis hinsichtlich der Feststellung des Standortes der Klägerin beim Aufsteigen auf das Fahrrad. Zur Frage des Mitverschuldens der Klägerin führte es aus, ein Zusammenstoß könne auch für den Fall nicht ausgeschlossen werden, daß die Klägerin beim Aufsteigen auf das Fahrrad überhaupt nicht nach links gekommen wäre, da der Zweitbeklagte einen sehr knappen Seitenabstand eingehalten habe. Damit lege die Klägerin dar, daß ein allfälliger Verstoß ihrerseits gegen § 11 Abs. 1 StVO den Schadensverlauf gar nicht beeinflußt habe und zeige damit eine ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit einer anderen Ursache oder eines anderen Verlaufes mit der Folge auf, daß die Vermutung der adäquaten Kausalität, also der Zugehörigkeit eines Schadens zum Zweckbereich der verletzten Schutznorm nicht mehr Platz greifen könne. Es hätten daher die Beklagten beweisen müssen, daß das rechtswidrige Handeln der Klägerin den Unfallshergang beeinflußt habe. Diesen Beweis hätten sie nicht erbracht, weil es möglicherweise auch zum Zusammenstoß gekommen wäre, wenn die Klägerin geradeaus weitergelenkt hätte. Den Beklagten sei auch der ihnen obligende Beweis eines Mitverschuldens der Klägerin nicht gelungen. Es stehe nur eine geringfügige Bewegung des Fahrrades der Klägerin zur Fahrbahninnenseite beim Aufsteigen auf das Fahrrad fest. Beim Überholen eines Radfahrers müsse mit gewissen Schwankungen gerechnet werden. Geringfügige Schwankungen ergeben sich schon aus der Beschaffenheit eines solchen Fahrzeuges. Sie stellten aber kein relevantes Mitverschulden im Sinne des § 1304 ABGB dar.
Die Revision ist nicht gerechtfertigt.
Da eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens in der Richtung einer allfälligen unrichtigen Anwendung des § 268 ZPO durch das Berufungsgericht nicht geltend gemacht wurde, ist auf die Frage der Bindungswirkung an den vom Strafgericht dem Schuldspruch zugrundegelegten Sachverhalt nicht einzugehen.
Soweit sich die Beklagten dagegen wenden, daß das Berufungsgericht von einem Überholen der Klägerin durch den Zweitbeklagten ausgegangen sei, ist ihnen zunächst entgegenzuhalten, daß das Verschulden des Zweitbeklagten und damit dessen Haftung sowie die Haftung des Erstbeklagten als Halter für dessen Verschulden gemäß § 19 Abs. 2 EKHG und der Drittbeklagten gemäß § 63 Abs. 1 KFG 1967 auf Grund der rechtskräftigen Verurteilung des Erstbeklagten gemäß § 268 ZPO bindend für das Zivilgericht feststeht. Im übrigen hat das Berufungsgericht das Vorbeibewegen des Motorfahrrades an dem Fahrrad der Klägerin zutreffend im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 29 StVO als Überholen gewertet, da sich das Motorfahrrad nicht etwa an einer sich nicht fortbewegenden Person oder Sache, sondern an einem sich fortbewegenden Fahrrad – eine Person, die am Fahrbahnrand ein Fahrrad schiebt, ist nicht als Fußgänger, sondern als Radfahrer anzusehen (vgl. die unter Anmerkung 4 zu § 65 StVO bei Dittrich-Veit-Schuchlenz angeführten Entscheidungen) – vorbeibewegt hat.
Diese Wertung durch das Berufungsgericht stellt sich als rechtliche Beurteilung dar und kann daher, wie dies die Revisionswerber versuchen, nicht unter dem Anfechtungsgrund der Z 3 des § 503 ZPO bekämpft werden.
Die Beklagten wenden sich ferner dagegen, daß das Berufungsgericht davon ausgegangen sei, es könne nicht ausgeschlossen werden, daß sich der Zusammenstoß auch ereignet hätte, wenn die Klägerin beim Aufsteigen auf das Fahrrad nicht nach links gekommen wäre, wobei hier die Beklagten im Sinne der bei Verletzung eines Schutzgesetzes im Sinne des § 1311 ABGB anzuwendenden Grundsätze den Ausschluß dieser Möglichkeit hätten beweisen müssen, da die Klägerin eine ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit einer anderen Unfallsursache aufgezeigt habe.
Diesen Ausführungen ist insoferne beizupflichten, als es sich im vorliegenden Falle um die Ursächlichkeit der Pflichtwidrigkeit eines der Klägerin allenfalls nach § 11 Abs. 1 StVO als Mitverschulden anzurechnenden Verhaltens und nicht etwa um die Ursächlichkeit der Pflichtwidrigkeit des Verhaltens des Zweitbeklagten geht. Die Grundsätze für die Begrenzung der Zurechnung der Schadensfolgen aus dem Rechtswidrigkeitszusammenhang sind auch auf die Schadenstragung wegen Mitverschuldens anzuwenden (vgl. Koziol, Haftpflichtrecht I Seite 186 ff; Bydlinsky, Buchbesprechung JBl 1961, 566; 8 Ob 91/76). Da sich die Kollision nach den Feststellungen in dem Zeitpunkt ereignete, als die Klägerin beim Aufsteigen zumindest geringfügig mit dem Fahrrad nach links schwenkte, hätte sie zu beweisen, daß der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten ihrerseits nicht eingetreten wäre (vgl. Koziol I, Seite 123 ff). Aber damit ist für den Standpunkt der Beklagten nichts gewonnen.
Zu Unrecht wenden sich die Beklagten gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß sie die Beweispflicht für das Mitverschulden der Klägerin trifft. Nach Lehre und Rechtsprechung hat der Schädiger das Mitverschulden des Geschädigten zu behaupten und zu beweisen. Allfällige Unklarheiten im erhobenen Sachbild beim Beweis des Mitverschuldens des Geschädigten gehen daher zu Lasten des Schädigers (vgl. Koziol I, 264; EvBl 1958/41 und 254; JB1 1958, 6o3; ZVR 1960/233; ZVR 1976/194 u.a.). Es kann daher auch im vorliegenden Falle zugunsten der Klägerin nur davon ausgegangen werden, daß sich das Fahrrad beim Aufsteigen der Klägerin geringfügig nach links bewegte. Verfehlt ist die Ansicht der Beklagten, die Klägerin habe sich damit erst in den fließenden Verkehr eingeordnet und durch die Linksbewegung den Vorrang des Zweitbeklagten im Sinne des § 19 Abs. 6 StVO verletzt. Ein sich durch Schieben am Fahrbahnrand fortbewegendes Fahrrad, dessen Lenker – wie bereits dargelegt wurde – nicht als Fußgänger, sondern als Radfahrer anzusehen ist, befindet sich nicht im ruhenden Verkehr. Das Aufsteigen auf ein solches am Fahrbahnrand geschobenes Fahrrad – etwa nach Überwindung einer Steigung, wie im vorliegenden Falle – kann daher nicht als Einordnen in den fließenden Verkehr gewertet werden. Mit Schwankungen eines Radfahrers muß beim Überholen immer gerechnet werden. Es muß daher ein etwas größerer Sicherheitsabstand als beim Überholen eines mehrspurigen Fahrzeuges eingehalten werden (vgl. ZVR 1963/259; ZVR 1969/260 und 312). Gegenüber dem grob verkehrswidrigen Verhalten des Zweitbeklagten, der zum rechten Fahrbahnrand nur einen Seitenabstand von 80 cm, somit zum Fahrrad der Klägerin einen noch geringeren Seitenabstand eingehalten hat, kann in der geringen Schwankung des Fahrrades, wie es im vorliegenden Falle durch das Ausbalancieren beim Aufsteigen der Klägerin entstanden ist, ein meßbares Mitverschulden der Klägerin nicht erblickt werden (vgl. ZVR 1963/259; ZVR 1969/312).
Der Revision mußte daher ein Erfolg versagt bleiben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.
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