European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1976:0080OB00132.76.0922.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der zweitbeklagten Partei die mit S 1.972,99 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die USt von S 110,59 und die Barauslagen von S 480,‑‑ binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 15. 11. 1972 wurde der damals 15 Jahre alte Kläger (geboren am * 1957) auf dem Schutzweg, der nördlich der durch eine Lichtsignalanlage automatisch geregelten Kreuzung der Konrad von Hötzendorf‑Straße mit dem Jakominigürtel und dem Schönaugürtel liegt, von dem vom Erstbeklagten gelenkten VW‑Bus niedergestoßen und verletzte.
Die Zweitbeklagte ist Halterin dieses PKWs. Gestützt auf die Bestimmungen des ABGB und des EKHG begehrt der Kläger vorläufig die Hälfte seines Schadens von S 20.929,80, somit S 10.464,90. Er brachte hiezu vor, er habe die Kreuzung auf dem Schutzweg zu überqueren begonnen, als die Fußgängerampel für ihn auf Grünlicht umgeschaltet habe. Nach zwei Schritten sei er vom Erstbeklagten niedergestoßen worden, der beim letzten Grünblinken, wahrscheinlich aber schon bei Gelblicht in seiner Fahrtrichtung in die Kreuzung eingefahren sei, sodaß er den nördlich der Kreuzung liegenden Schutzweg erst erreicht habe, als die Verkehrsampel auf dem Schutzweg bereits Grünlicht anzeigte.
Die Beklagten wendeten ein, der Erstbeklagte sei bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahren. Der Kläger sei für den Erstbeklagten vollkommen unvermutet über die Kreuzung gelaufen, sodaß letzterer nicht mehr in der Lage gewesen sei, vor dem Kläger rechtzeitig anzuhalten.
Das Erstgericht wies die Klage gegen den Erstbeklagten ab und erkannte mit Zwischenurteil, daß die Forderung des Klägers gegen die Zweitbeklagte dem Grunde nach zu Recht bestehe.
Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichtes im abweisenden Teil hinsichtlich des gegen den Erstbeklagten gerichteten Begehrens und änderte es im stattgebenden Teil hinsichtlich des gegen die Zweitbeklagte gerichteten Begehrens (Zwischenurteil) im Sinne der Abweisung der Klage ab.
Gegen den abändernden Teil dieses Urteiles (Abweisung der Klage gegen die Zweitbeklagte) richtet sich die Revision des Klägers aus dem Anfechtungsgrunde des § 503 Z. 4 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung des Zwischenurteiles des Erstgerichtes abzuändern.
Die Zweitbeklagte stellt den Antrag, der Revision nicht Folge zu geben.
Die Untergerichte gingen von folgendem Sachverhalt aus:
Die Conrad von Hötzendorf‑Straße verläuft in Nord‑Süd‑Richtung und wird im rechten Winkel von den Straßenzügen des Jakominigürtels (Osten) und des Schönaugürtels (Westen) gekreuzt. Dieser übersichtliche Bereich ist sowohl für den Fahrzeugverkehr als auch für die Fußgänger ampelgeregelt. Wenn nicht eine sogenannte Straßenbahnanforderung vorliegt (Einbiegen der Linie 5 von der Conrad von Hötzendorf‑Straße in den Schönaugürtel und umgekehrt), zeigt die Fußgängerampel beim nördlichen Schutzweg Grünlicht, wenn für den Fahrzeugverkehr aus südlicher Richtung Rotlicht besteht. Die Kreuzung ist vom südlichen Fußgängerübergang bis zum Unfallspunkt auf dem nördlichen Schutzweg 55 m breit. Zur Unfallszeit war die Fahrbahn auf Grund eines vorangegangenen Regens naß. Der Kläger fuhr mit seinem Zwillingsbruder mit einem Straßenbahnzug der Linie 4 – daher keine Anforderung – in Richtung Süden. Beide stiegen mit anderen Fahrgästen an der Haltestelle Jakominigürtel aus und stellten sich auf die unmittelbar bei der Haltestelle befindliche Schutzinsel im nördlichen Ast der Conrad von Hötzendorf‑Straße, um abzuwarten, bis sie die Fahrbahn der Conrad von Hötzendorf‑Straße auf dem nördlichen Schutzweg in westlicher Richtung überqueren können. Als die Fußgängerampel auf Grün umsprang, machte der Kläger als erster einige größere Schritte auf die Fahrbahn, ohne vorher nach links geschaut zu haben, wogegen sein Bruder und O*, die den VW‑Bus bemerkt hatten, erst im Begriffe waren, die Fahrbahn auf dem Schutzweg zu betreten. Der Erstbeklagte näherte sich der Kreuzung aus südlicher Richtung auf der Conrad von Hötzendorf‑Straße. Ohne vor der Kreuzung anhalten zu müssen, begann er in einem größeren Abstand hinter mehreren anderen Fahrzeugen als letzter mit einer Geschwindigkeit von etwas über 40 km/h in die weiträumige Kreuzung einzufahren. Beim Überfahren der Haltelinie vor dem südlichen Schutzweg zeigte die Verkehrsampel noch grünblinkendes Licht an. Der Erstbeklagte behielt diese Geschwindigkeit bei, fuhr 0,4 Sekunden vor dem Umschalten auf Gelblicht in die Kreuzung ein, benötigte die gesamte Gelbphase (5 Sekunden) zum Durchfahren der Kreuzung und war noch 14,5 m (= 1,35 Sekunden) vor dem nördlichen Schutzweg, als er den Kläger am Beginn der Überquerung des Schutzweges wahrnahm. Zu diesem Zeitpunkt gab es für seine Fahrtrichtung bereits Rotlicht und der Verkehr auf dem Schönaugürtel fuhr in die Kreuzung ein. Er bremste sofort voll ab. Dabei zeichneten sich vor dem mit ca. 28 km/h erfolgenden Anprall des VW‑Busses gegen den Kläger Bremsspuren von 6,4 m und nach diesem weitere 5 m ab. Wenn der Erstbeklagte bremsbereit auf der Kreuzung gefahren wäre (statt einer Reaktionszeit von 0,75 Sekunden nur eine Bremsansprechzeit von max. 0,3 Sekunden), hätte er den Unfallspunkt noch um rund 40 cm überfahren (Restgeschwindigkeit beim Anprall 8‑9 km/h). Der Kläger erlitt unter anderem ein Schädelhirntrauma mit zerebraler Herdbildung.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, den Erstbeklagten treffe kein Verschulden. Er habe bei grün blinkendem Licht noch in die Kreuzung einfahren dürfen (§ 38 Abs. 6 StVO.) und habe sie möglichst rasch verlassen müssen (§ 38 Abs. 2 StGB). Es könne ihm weder ein Verstoß gegen § 20 StVO, noch eine verspätete Reaktion auf das Herabsteigen des Klägers nachgewiesen werden. Der Anstoß wäre auch bei bremsbereitem Fahren nicht vermeidbar gewesen, wenn er auch mit geringerer Intensität erfolgt wäre. Da auch § 9 Abs. 2 StVO nicht zum Tragen komme, sei eine Haftung des erstbeklagten Lenkers zu verneinen, die Klage gegen ihn abzuweisen. Demgegenüber sei die Haftung der Zweitbeklagten als Halterin nach dem EKHG zu bejahen. Der Unfall sei nicht allein auf das Verhalten des Klägers, der auf das herankommende Fahrzeug nicht geachtet habe, sondern auch darauf zurückzuführen, daß der Erstbeklagte nicht jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet habe. Dieser habe nicht richtig abgeschätzt, daß er für die Querung der weiträumigen Kreuzung außer der gesamten Gelbphase noch einen Teil der Rotphase benötigen werde, daher die Gefahr bestanden habe, daß die Fußgängerampel schon in dem Zeitpunkt grünes Licht anzeige, als er den nördlichen Schutzweg noch nicht erreicht haben werde. Der Erstkläger hätte daher, um jeder von ihm geforderten Sorgfalt gerecht zu werden, das Einfahren in die Kreuzung unterlassen müssen.
Das Berufungsgericht bestätigte die Abweisung der Klage gegen den Erstbeklagten. Zur Haftung der zweitbeklagten Halterin führte es aus, bei der zur Unfallszeit bestehenden Phasenregelung der Lichtsignalanlage wäre es einem beim letzten Grünblinken in die Kreuzung einfahrenden Lenker selbst bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h nicht möglich gewesen, innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Zeit von 3,4 Sekunden die Kreuzung vor Eintritt der Grünphase für den Fußgängerverkehr auf dem nördlichen Schutzweg zu verlassen, da er hiefür 3,9 Sekunden benötigt hätte. Selbst wenn dem Erstbeklagten die Kenntnis der Dauer der Gelbphase zugemutet würde, habe ihm nicht bekannt sein können, zu welchem Zeitpunkt die Verkehrsampel für die Fußgänger auf Grünlicht umschalte. Er habe sich darauf verlassen dürfen, daß die Fußgängerampel auf dem nördlichen Schutzweg erst auf Grünlicht umgeschaltet würde, wenn er bei der nicht zu beanstandenden Fahrgeschwindigkeit von 40 km/h die Kreuzung bereits wieder verlassen haben würde. Das Schadensereignis sei auf eine nicht zeitgerecht erkennbare Eigenart der Ampelschaltung und auf das Verhalten des Klägers zurückzuführen. Da der Erstbeklagte vorschriftsmäßig in die Kreuzung eingefahren sei, eine angemessene Geschwindigkeit eingehalten und beim Auftauchen des Hindernisses sofort reagiert habe, könne nicht gesagt werden, daß Halter und Lenker nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet hätten. Der Unfall stelle daher ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 EKHG dar, das die Ersatzpflicht der zweitbeklagten Halterin ausschließe.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht gerechtfertigt.
Der Kläger macht geltend, der Erstbeklagte hätte mit Rücksicht auf die Weiträumigkeit der Kreuzung in Rechnung stellen müssen, daß er bei der von ihm gewählten Geschwindigkeit die Kreuzung nicht innerhalb der Gelbphase werde räumen können, und hätte besonders auf die Fußgängergruppe Bedacht nehmen müssen, die auf das Aufleuchten des Grünlichtes zum Überqueren des Schutzweges gewartet habe. Er habe nicht alles in seiner Macht Stehende unternommen, um den Unfall zu vermeiden: Er sei insbesondere nicht bremsbereit in die Kreuzung eingefahren. Auch hätte er die Kreuzung vor Aufleuchten des Grünlichtes für die Fußgänger räumen können, wenn er die Kreuzung mit der nicht nur zulässigen, sondern auch zumutbaren Geschwindigkeit von 50 km/h überquert hätte.
Die Unabwendbarkeit eines Ereignisses im Sinne des § 9 Abs. 2 EKHG setzt voraus, daß Halter und Betriebsgehilfe jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet haben. Die Sorgfaltspflicht im Sinne dieser Gesetzesstelle ist nicht die gewöhnliche Verkehrssorgfalt, sondern die äußerste, nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt. Als Maßstab ist die Sorgfalt eines besonders umsichtigen und sachkundigen Kraftfahrers heranzuziehen (vgl. Koziol, Haftpflichtrecht II, S. 462; Müller, Straßenverkehrsrecht, 22. Auflage, Band I, S. 238 Anm. 241; Geigel, Haftpflichtprozeß 15. Auflage, Seite 648; Jagusch, Straßenverkehrsrecht 22. Auflage, S. 864 ff; ZVR. 1962/276; ZVR. 1971/161; ZVR. 1973/12; ZVR. 1974/190). Dabei ist nicht rückblickend zu beurteilen, ob der Unfall bei anderem Verhalten vermieden worden wäre, sondern von der Sachlage vor dem Unfall auszugehen und zu prüfen, ob der Kraftfahrer in dieser Lage die äußerste, nach den Umständen zumutbare Verkehrssorgfalt beobachtet hat (vgl. Geigel a.a.O., S. 648; Jagusch a.a.O., S. 864; Müller a.a.O., S. 239). Die erhöhte Sorgfaltspflicht setzt allerdings nicht erst in der Gefahrenlage ein, sondern verlangt, daß auch schon vorher vermieden wird, in eine Situation zu kommen, aus der eine Gefahr entstehen kann (vgl. Koziol II, S. 462; Müller a.a.O. S. 240; ZVR. 1962/276; ZVR. 1971/161). Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so kommt man zum Ergebnis, daß das Berufungsgericht aus durchaus zutreffenden Gründen den Entlastungsbeweis im Sinne des § 9 Abs. 2 EKHG seitens der zweitbeklagten Halterin als erbracht angesehen hat. Es steht fest, daß der Erstbeklagte noch bei blinkendem Grünlicht in die Kreuzung eingefahren ist. Er durfte daher, ohne anzuhalten, die Kreuzung überqueren (2 Ob 135/70). Es liegt hier nicht der Fall vor, daß der Lenker eines Fahrzeuges bei Beginn des blinkenden Grünlichtes noch so weit von der Kreuzung entfernt ist, daß er während dieser Lichtphase die Kreuzung nicht mehr erreichen kann, sodaß er die Geschwindigkeit so rechtzeitig herabsetzen muß, um wegen Aufleuchtens von Gelblicht vor der Kreuzung anhalten zu können. Da das dem Rot vorausgehende Gelb dem ordnungsgemäß in die Kreuzung eingefahrenen Fahrzeuglenker deren Räumung befiehlt (§ 38 Abs. 2 StVO), hatte der Erstbeklagte trotz der inzwischen eingetretenen Umschaltung des Lichtsignales in seiner Fahrtrichtung auf Rot die Kreuzung so rasch als möglich zu verlassen. Mit Rücksicht auf die Weiträumigkeit der Kreuzung gehörte es zwar zur äußersten Sorgfalt dieses Lenkers, auf eine dadurch nahegelegene Möglichkeit Rücksicht zu nehmen, daß er auf der Kreuzung vom Phasenwechsel von Gelb auf Rot überrascht werden könne und sie nicht mehr rechtzeitig vor der Umschaltung auf Grünlicht für den Fußgängerverkehr in der Querrichtung werde verlassen können. Daraus ergab sich für ihn die Verpflichtung, seine Fahrweise darauf einzustellen. Die Verpflichtung des Kraftfahrers, den bei Grünlicht einfahrenden Fahrzeugen des Querverkehrs, die auf der Kreuzung vom Phasenwechsel überrascht werden und die Kreuzung nicht mehr rechtzeitig verlassen können, die Räumung der Kreuzung zu ermöglichen (vgl. Kammerhofer StVO 5. Auflage, Anm. 4 zu § 38; Müller Band 3, S. 700 Anm. 8 und S. 702 Anm. 11; Jagusch a.a.O S. 316 Anm. 2 a), gilt sinngemäß auch für den Fußgänger. Da sich das Fahrzeug der Zweitbeklagten im Zeitpunkt der Umschaltung der Lichtsignale für den Fußgängerverkehr über den Schutzweg noch auf der Kreuzung befand und sich dem Schutzweg auf rund 15m genähert hatte, mußte der Erstbeklagte nicht mit dem völlig unbedachten Betreten des Schutzweges durch den Kläger, der kein Kind im Sinne des § 3 StVO mehr war, sofort bei Umschaltung des Lichtsignales rechnen. Der Erstbeklagte hat auch sofort voll gebremst, und damit rechtzeitig und ausreichtend auf das plötzliche Betreten des Schutzweges durch den Kläger reagiert, da auch einem Kraftfahrer, der besonders vorsichtig und bremsbereit fahren muß, eine Reaktionszeit von 0,6 bis 0,8 Sekunden zuzubilligen ist (vgl. Dittrich‑Veit‑Schuchlenz, StVO Anm. 49 zu § 20 und Anhang II, S. 506; ZVR. 1964/56 und ZV. 1961/157). Die von ihm gewählte Geschwindigkeit von 40 km/h war auch durchaus angemessen. Ganz abgesehen davon, daß er auch bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h die Kreuzung bis zum Eintritt der Rotphase nicht mehr rechtzeitig hätte räumen können (notwendige Zeit: 3,9 Sekunden – verfügbare Zeit: 3,4 Sekunden), ist die im Ortsgebiet zulässige Höchstgeschwindigkeit nur bei optimalen Verhältnissen auszuschöpfen, die angesichts der Verpflichtung zur Beobachtung besonderer Vorsicht beim Verlassen der Kreuzung nicht gegeben waren. In der Annahme eines unabwendbaren Ereignisses durch das Berufungsgericht kann daher ein Rechtsirrtum nicht gefunden werden.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
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