Normen
BauO NÖ 2014 §35
MRK Art6
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021050147.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Marktgemeinde Pfaffstätten hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von 1.346,40 € binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind Eigentümer einer näher bezeichneten Liegenschaft in der W‑Gasse 62 in der KG P. und des darauf befindlichen Gebäudekomplexes.
2 Mit Bescheid des Gemeindevorstands der Marktgemeinde P. (belangte Behörde) vom 23. Dezember 2020 wurde die von den revisionswerbenden Parteien erhobene Berufung gegen den Bescheid des Bürgermeisters der Marktgemeinde P. vom 19. September 2019 betreffend das Verbot der Nutzung eines als Abstellraum genehmigten Gebäudeteils im südwestlichen Bereich des Objektes in P, W‑gasse 62, als Hühnerstall gemäß § 35 Niederösterreichische Bauordnung 2014 (NÖ BO 2014) als unbegründet abgewiesen und der ebenso gestellte Feststellungsantrag nach § 70 Abs. 6 NÖ BO 2014 als unzulässig zurückgewiesen.
3 Ausschließlich gegen die Abweisung ihrer Berufung gegen das Nutzungsverbot gemäß § 35 NÖ BO 2014 erhoben die revisionswerbenden Parteien Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG) und beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Sie begründeten ihre Beschwerde damit, dass der gegenständliche Raum seit seiner Errichtung in den 1930er Jahren als Kleintierstall benutzt werde, es liege ein vermuteter Konsens vor. Dieser stehe dem Nutzungsverbot entgegen. Dazu legten die revisionswerbenden Parteien Fotos und Erklärungen der Nachbarn hinsichtlich der dauerhaften Nutzung des Raums als Hühnerstall vor. Es sei unzutreffend, dass der Raum seit 1980 als Abstellraum gewidmet sei. Der den revisionswerbenden Parteien vorliegende Bestandsplan aus dem Jahr 1980 weise keinerlei Widmung oder Nutzungsbezeichnung für diesen Raum auf, dies habe der Bürgermeister in einem Schreiben vom 2. Februar 2016, das im Rahmen der Beschwerde ebenso vorgelegt worden sei, auch bestätigt. Der den revisionswerbenden Parteien vorliegende Originalplan könne im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegt werden. Die belangte Behörde habe sich weder mit dem in Kopie vorgelegten Plan noch mit dem genannten Schreiben des Bürgermeisters auseinandergesetzt.
4 Diese Beschwerde wies das LVwG mit der angefochtenen Entscheidung mit der Maßgabe, dass der baupolizeiliche Auftrag gemäß § 17 VwGVG iVm § 59 Abs. 2 AVG binnen einer Frist von vier Wochen ab Zustellung der Entscheidung zu erfüllen sei, ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte es für nicht zulässig.
5 In seiner Begründung schloß sich das LVwG den Feststellungen der belangten Behörde an. Das Gebäude bestehe seit den 1930er Jahren und sei aufgrund des Verlustes der ursprünglichen Pläne im Zuge von Umbauten mit dem am 19. September 1980 bewilligten Bestandsplan konsentiert worden. Es werde nicht bestritten, dass in dem fraglichen südwestlichen Raum Hühnerhaltung betrieben werde; die revisionswerbenden Parteien hätten auch angegeben, dass der Raum seit den 1930er Jahren als Kleintierstall benutzt werde. Eine Änderung des am 19. September 1980 bewilligten Konsenses liege jedoch nicht vor. Das LVwG hielt ‑ im Rahmen des Punktes „4. Feststellungen und Beweiswürdigung“ ‑ sodann fest, dass strittig sei, ob der Bestandsplan vom 19. September 1980 für den verfahrensgegenständlichen Raum einen Verwendungszweck ausweise bzw. ob ein vermuteter Konsens die jahrzehntelange Hühnerhaltung als Verwendungszweck mitumfasse. Die Widmung als Abstellraum stehe aufgrund des im Akt einliegenden Originalplans aus Juni 1980 und „des Beschwerdeinhaltes“ fest. Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung tätigte das LVwG sodann Ausführungen zur Färbung von Bauplänen nach der im Jahr 1980 gültigen Bauplanverordnung 1978, hielt fest, dass auf dem im Akt liegenden Plan im Bereich des fraglichen Raumes Radierungen erkennbar seien, und zitierte aus Motivenberichten zur Niederösterreichischen Bauordnung 1976 sowie zur Niederösterreichischen Bauordnung 1996. Es liege kein Konsens vor, das Nutzungsverbot sei zu Recht ausgesprochen worden, jedoch sei die Leistungsfrist anzupassen gewesen.
6 Zum Entfall einer mündlichen Beschwerdeverhandlung hielt das LVwG fest, dass gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG davon habe abgesehen werden können, weil die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht habe erwarten lassen und weder Art. 6 EMRK noch Art. 47 GRC einem Entfall entgegenstünden. Der Sachverhalt stünde fest.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision mit dem Antrag, es wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, in eventu wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben. Dazu bringt die Revision zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das LVwG habe zu Unrecht von einer mündlichen Verhandlung abgesehen und entscheidungswesentliche Ermittlungen nicht durchgeführt.
8 Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist in Anbetracht der Frage der Rechtmäßigkeit des Unterlassens einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zulässig. Sie ist auch begründet.
10 In Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt festgehalten, dass der Gesetzgeber als Zweck der mündlichen Verhandlung die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör vor Augen gehabt hat. Ferner kommt eine ergänzende Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung in Frage. Bei sachverhaltsbezogenem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien ist ebenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen, dies sogar dann, wenn kein Antrag auf eine solche gestellt worden ist (vgl. etwa VwGH 4.12.2020, Ra 2020/05/0157, mwN).
11 Vorliegend beantragten die revisionswerbenden Parteien in ihrer Beschwerde ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und bestritten die Sachverhaltsfeststellungen der belangten Behörde unter Vorlage von Lichtbildern, Plänen und Erklärungen der Nachbarn sowie mit dem Beweisanbot der Vorlage des ihnen vorliegenden Originalplans aus dem Jahr 1980 und einem dazu ergangenen Schreiben des Bürgermeisters der Marktgemeinde P. aus dem Jahr 2016. Das LVwG übernahm die Feststellungen der belangten Behörde jedoch, ohne sich ‑ über eine bloße Anführung des Wortes „Beschwerdeinhalt“ hinaus ‑ mit diesem Vorbringen inhaltlich auseinanderzusetzen. Vor dem Hintergrund des Inhalts der Beschwerde konnte das LVwG aber nicht zu Recht davon ausgehen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der Frage, ob die Nutzung des in Rede stehenden Raumes laut Bewilligung auf einen bestimmten Verwendungszweck eingeschränkt ist, geklärt sei. Schon angesichts dessen wäre eine mündliche Verhandlung durchzuführen gewesen.
12 Das baubehördliche Nutzungsverbot betrifft einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinn des Art. 6 EMRK („civil right“), weshalb eine Prüfung der Relevanz der Unterlassung einer mündlichen Verhandlung nicht vorzunehmen ist (vgl. erneut VwGH 25.9.2019, Ra 2019/05/0056, mwN, dort zum baupolizeilichen Auftrag).
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.
15 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG, insbesondere § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 15. März 2022
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