Normen
ARB1/80 Art13
ARB1/80 Art14
AsylG 1991
AsylG 1991 §7
AsylG 2005 §13 Abs1
AsylG 2005 §51
AufG 1992
AufG 1992 §1 Abs3 Z6
AVG §56
EURallg
FrG 1997 §28 Abs5
NAG 2005 §46 Abs1 Z2
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwRallg
62012CJ0225 Demir VORAB
62014CJ0561 Genc VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020220007.J00
Spruch:
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (VwG) die Beschwerde des Revisionswerbers, eines türkischen Staatsangehörigen, gegen den abweisenden Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (Behörde) vom 13. November 2019 betreffend einen Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus (§ 46/1/2)“ zum Zweck der Familiengemeinschaft mit seiner Ehefrau, ebenfalls einer türkischen Staatsangehörigen, die in den Arbeitsmarkt in Österreich integriert ist, mit der Maßgabe ab, dass der Bescheid laute, der Antrag des Revisionswerbers werde zurückgewiesen. Eine ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt.
Das VwG legte seiner Entscheidung zugrunde, dass sich der Revisionswerber „im asylrechtlichen Verfahren“ befinde, weil eine Beschwerde gegen den abweisenden Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27. August 2018 beim Bundesverwaltungsgericht anhängig sei.
Rechtlich folgerte das VwG, die Behörde habe den Antrag des Revisionswerbers, weil dieser nicht dem Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) unterliege, tatsächlich nicht ab‑ sondern zurückgewiesen. Es sei daher zu prüfen, ob der Zurückweisungsgrund vorliege, ob also der Revisionswerber dem NAG unterliege. Der Revisionswerber sei Ehemann einer türkischen Staatsangehörigen, die über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfüge und in Österreich einer erlaubten Erwerbstätigkeit nachgehe; er habe Erwerbsabsichten und befinde sich im asylrechtlichen Verfahren. Der Hinweis auf die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) führe nicht zum Erfolg. Die zu § 1 Abs. 2 Z 1 NAG ergangene Judikatur betreffend türkische Staatsangehörige (Hinweis etwa auf VwGH 21.2.2017, Ra 2016/22/0085) sei auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden, weil der Revisionswerber nicht mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei. Die maßgeblichen Bestimmungen des Fremdengesetzes 1997 (FrG) ‑ nämlich die §§ 47 und 49 FrG ‑ beinhalteten nur Besserstellungen für Angehörige von EWR‑Bürgern und von österreichischen Staatsangehörigen, nicht aber für (türkische) Angehörige von türkischen Staatsangehörigen. Gemäß § 1 Aufenthaltsgesetz (AufG) benötigten Fremde zur Begründung eines Hauptwohnsitzes eine Bewilligung; keine Bewilligung benötigten Fremde, wenn sie aufgrund des AsylG 1997 zum Aufenthalt in Österreich berechtigt seien (§ 1 Abs. 3 Z 6 leg. cit.). Auch das AufG sehe somit keine günstigere Regelung für den vorliegenden Sachverhalt vor. Da das Asylverfahren beim BVwG anhängig sei, sei der Revisionswerber gemäß § 13 Abs. 1 AsylG zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt und verfüge über eine Aufenthaltskarte gemäß § 51 AsylG. Somit erfülle er den Tatbestand des § 1 Abs. 2 Z 1 NAG und unterliege daher nicht dem NAG. Auf den Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 leg. cit. betreffend die Zulässigkeit der Inlandsantragstellung sei nicht einzugehen gewesen.
Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG entfallen können.
Die ordentliche Revision werde zugelassen, weil „es an einer Rechtsprechung zum vorliegenden Anwendungsfall“ fehle.
2 Dagegen richtet sich die vorliegende ordentliche Revision.
3 Die Behörde nahm von der Einbringung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
4 In der Revision wird als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung formuliert, es liege keine hg. Rechtsprechung vor, ob § 1 Abs. 2 Z 1 NAG auf türkische Staatsangehörige im Anwendungsbereich des Art. 13 ARB 1/80 anzuwenden sei, wenn deren Ehegatte/Ehegattin selbst Drittstaatsangehörige/r sei bzw. ob die Rechtsprechung, wonach § 1 Abs. 2 Z 1 NAG wegen einer Schlechterstellung gegenüber der Rechtslage vor dem 1. Jänner 2006 nicht auf türkische Staatsangehörige anzuwenden sei, die mit österreichischen StaatsbürgerInnen verheiratet seien (Hinweis auf VwGH 21.2.2017, Ra 2016/22/0085), auch auf türkische Staatsangehörige anzuwenden sei, die mit Drittstaatsangehörigen verheiratet seien.
5 Die Revision ist angesichts dieses Vorbringens zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
6 Der Revisionswerber tritt den Feststellungen des VwG, wonach er gemäß § 13 Abs. 1 AsylG zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sei und über eine Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß § 51 AsylG verfüge, nicht entgegen. Als Ehemann einer türkischen Staatsangehörigen, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und in den österreichischen Arbeitsmarkt integriert ist, fällt der Revisionswerber ‑ sofern nicht rechtskräftig eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen ihn erlassen wurde (vgl. etwa VwGH 21.3.2017, Ra 2017/22/0008) ‑ grundsätzlich unter den Anwendungsbereich des Art. 13 ARB 1/80. Fraglich ist jedoch, ob das AufG oder das FrG günstigere Regelungen für den Ehemann einer Drittstaatsangehörigen enthielten.
7 Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.
8 Der EuGH hielt dazu fest, dass eine nationale Regelung nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 fällt, als sie geeignet ist, die Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates durch türkische Arbeitnehmer zu beeinträchtigen (vgl. etwa EuGH 12.4.2016, C. Genc, C‑561/14 , Rn. 44). Eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt werde, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, sei verboten, sofern sie nicht zu den in Art. 14 ARB 1/80 aufgeführten Beschränkungen gehöre oder durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt oder geeignet sei, die Erreichung des angestrebten legitimen Zieles zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehe (vgl. EuGH 7.11.2013, Demir, C‑225/12 , Rn. 40).
9 Dazu führte das VwG aus, dem Revisionswerber komme keine Niederlassungsfreiheit gemäß §§ 47 und 49 FrG zu, weil er nicht mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei; für türkische Angehörige von türkischen Staatsangehörigen sehe das FrG keine Besserstellung vor. Gemäß § 1 Abs. 3 Z 6 AufG benötigten Fremde, die nach dem AsylG aufenthaltsberechtigt seien, keine Bewilligung nach dem AufG; demnach seien Asylwerber vom Anwendungsbereich des AufG ausgenommen, wenn sie keine Bewilligung brauchten; eine günstigere Regelung für den vorliegenden Fall sei nicht vorgesehen.
10 Der Revisionswerber sieht hingegen eine Verschlechterung darin, dass sich § 1 Abs. 2 Z 1 NAG „negativ auf die Möglichkeit der Familienzusammenführung des Revisionswerbers mit seiner Ehefrau auswirkt.“ Sowohl das AufG als auch das FrG enthielten keine mit § 1 Abs. 2 Z 1 NAG vergleichbare Bestimmungen, wonach der Revisionswerber vom Anwendungsbereich dieser Gesetze ausgeschlossen wäre und somit auch während des anhängigen Verfahrens nach dem AsylG einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels stellen dürfte, über den inhaltlich zu entscheiden wäre.
11 Gemäß § 1 Abs. 2 Z 1 NAG gilt dieses Bundesgesetz grundsätzlich nicht für Fremde, die nach asylrechtlichen Bestimmungen aufenthaltsberechtigt sind.
12 § 28 Abs. 5 zweiter Satz FrG sah vor, dass Fremde, die auf Grund der Bestimmungen des AsylG 1997 zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt waren, hiefür keinen Einreise‑ oder Aufenthaltstitel benötigten.
13 Gemäß § 1 Abs. 3 Z 6 AufG brauchten Fremde, die aufgrund des AsylG 1991 zum Aufenthalt in Österreich berechtigt waren, keine Bewilligung.
14 Nach der hg. Rechtsprechung zu § 1 Abs. 3 Z 6 AufG waren Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung auch in denjenigen Fällen abzuweisen, in denen eine Berechtigung zum vorläufigen Aufenthalt im Sinn des § 7 AsylG 1991 vorlag (vgl. etwa VwGH 3.4.1998, 97/19/1023, mwN). Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 28 Abs. 5 zweiter Satz FrG bildete einen Versagungsgrund, welcher zur Abweisung eines Antrages auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung führte (vgl. etwa VwGH 27.9.2005, 2005/18/0202, mwN). Der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zufolge waren somit Fremde, die nach asylrechtlichen Bestimmungen zum Aufenthalt in Österreich berechtigt waren, weder vom Anwendungsbereich des AufG noch des FrG ausgenommen und Anträge etwa auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder einer Niederlassungsbewilligung waren zwar inhaltlich zu beurteilen, aber abzuweisen.
15 Inwiefern der Umstand, dass der Antrag des Revisionswerbers nach den Bestimmungen des AufG und des FrG abzuweisen statt nach dem NAG zurückzuweisen gewesen wäre, für den Revisionswerber eine Verschlechterung darstellen sollte, ist nicht zu erkennen. Dafür, dass ‑ etwa nach Durchführung einer Interessenabwägung ‑ trotz Vorliegen eines Versagungsgrundes gemäß § 1 Abs. 3 Z 6 AufG oder § 28 Abs. 5 zweiter Satz FrG ein Aufenthaltstitel hätte erteilt werden können, fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Da dem Revisionswerber nach den Bestimmungen des AufG oder des FrG auch kein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre, hat § 1 Abs. 2 Z 1 NAG keine Auswirkungen auf die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Revisionswerbers im Inland und stellt somit keine unzulässige Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 dar.
16 Das VwG führte auch zutreffend aus, dass dem Revisionswerber keine Niederlassungsfreiheit gemäß §§ 47 und 49 FrG zukommt, weil er nicht mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet ist. Mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH (etwa EuGH 10.7.2014, Dogan, C‑138/13 , Rz. 34; 19.7.2012, Dülger, C‑451/11 , Rn. 46 bis 48) zur Bedeutung der Familienzusammenführung für die Qualität des Aufenthaltes türkischer Staatsangehöriger in Österreich legt die Revision nicht dar, dass daraus ein Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG abgeleitet werden und ein auf dem AsylG beruhendes Aufenthaltsrecht gegen die zitierte Rechtsprechung des EuGH verstoßen könnte.
17 Da ‑ wie oben dargelegt ‑ das AufG und das FrG keine günstigeren Regelungen für den Ehemann einer Drittstaatsangehörigen und somit auch nicht für den Ehemann einer türkischen Staatsangehörigen enthalten, ist für den Revisionswerber aus dem Hinweis auf Art. 13 ARB 1/80 nichts zu gewinnen. Die Stillhalteklausel kommt nämlich nur dann und nur insoweit zur Anwendung, als durch die sonst grundsätzlich maßgebliche Rechtslage eine Verschärfung ‑ im Sinn einer Schlechterstellung des Antragstellers ‑ eintrat, andernfalls ist auf die nach den in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien maßgebliche Rechtslage (im Revisionsfall die im Zeitpunkt der Entscheidung des VwG geltende Fassung des NAG) abzustellen (vgl. etwa VwGH 27.2.2020, Ra 2017/22/0040, Pkt. 5.2., mwN).
18 Auf den gegenständlichen Fall sind somit die Regelungen des NAG und auch dessen § 1 Abs. 1 Z 2 leg. cit. anzuwenden. Wenn das VwG angesichts der unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis, wonach der Revisionswerber gemäß § 13 Abs. 1 AsylG zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sei und über eine Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß § 51 AsylG verfüge, den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger gemäß § 1 Abs. 2 Z 1 NAG zurückwies, weil der Revisionswerber nach dem AsylG zum Aufenthalt berechtigt ist, kann dies nicht als rechtswidrig erkannt werden.
19 Auch in Zusammenhang mit dem Absehen von einer Verhandlung durch das VwG zeigt die Revision keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses auf, zumal der entscheidungswesentliche Sachverhalt geklärt war und die in der Revision aufgeworfene Rechtsfrage nicht eine Erörterung in einer Verhandlung erfordert hätte. Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC standen somit der Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung nicht entgegen.
20 Aus diesen Erwägungen war die Revision gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am 23. Februar 2021
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