VwGH Ra 2020/21/0532

VwGHRa 2020/21/053218.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der L C T, vertreten durch Mag. Leopold Zechner, Rechtsanwalt in 8600 Bruck an der Mur, Fridrichallee 3, gegen das am 13. Oktober 2020 mündlich verkündete und mit 30. Oktober 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, I422 2233937‑1/21E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §117 Z3
ASVG §138
FrPolG 2005 §66 Abs1
NAG 2005 §51 Abs1
NAG 2005 §51 Abs1 Z1
NAG 2005 §51 Abs1 Z2
NAG 2005 §51 Abs2 Z1
NAG 2005 §53a Abs1
NAG 2005 §53a Abs2 Z1
NAG 2005 §53a Abs3 Z2
NAG 2005 §55 Abs3
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210532.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die 1969 geborene Revisionswerberin, eine rumänische Staatsangehörige, hielt sich zunächst von 8. April 2015 bis 20. Dezember 2018 im Rahmen ihrer selbstständigen Tätigkeit als „24‑Stunden‑Pflegekraft“ jeweils abwechselnd für einen Monat in Österreich und einen Monat in Rumänien auf. Seit 21. Dezember 2018 ist sie durchgehend in Österreich wohnhaft. Seit damals lebt die Revisionswerberin mit einem österreichischen Staatsangehörigen, mit dem sie seit Oktober 2018 eine Beziehung führt, im gemeinsamen Haushalt. Ihr wurde eine befristete Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmerin mit Gültigkeit vom 15. April 2019 bis 14. April 2024 erteilt.

2 Mit Schreiben vom 20. Mai 2019 befasste die Niederlassungsbehörde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Sinne des § 55 Abs. 3 NAG zur Überprüfung, ob der rechtmäßige Aufenthalt der Revisionswerberin noch gegeben bzw. ob eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zulässig sei. Nach den angeschlossenen Unterlagen sei bekannt geworden, dass die Revisionswerberin keine Arbeitnehmerin mehr sei, woraus das Fehlen der Voraussetzungen gemäß § 51 Abs. 1 Z 1 NAG resultiere.

3 Dazu führte das BFA in der Folge Ermittlungen durch, in deren Rahmen die Revisionswerberin am 28. Juni 2019 niederschriftlich einvernommen und von ihr am 13. März 2020 eine Stellungnahme abgegeben wurde. Danach wies das BFA die Revisionswerberin mit Bescheid vom 14. April 2020 gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG ‑ unter Einräumung eines einmonatigen Durchsetzungsaufschubes nach § 70 Abs. 3 FPG ‑ aus dem österreichischen Bundesgebiet aus.

4 Dabei ging das BFA zusammengefasst davon aus, die Revisionswerberin sei in Österreich erst seit 21. Dezember 2018 mit Hauptwohnsitz gemeldet, sie habe hier nur in diversen kurzfristigen Arbeitsverhältnissen gestanden und sie verfüge nicht über ausreichende Existenzmittel im Sinne des § 51 NAG. Da die Revisionswerberin in Österreich nur kurzfristig erwerbstätig gewesen sei und keine hinreichenden Existenzmittel aufweise, komme ihr ‑ so folgerte das BFA rechtlich ‑ das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht mehr zu.

5 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) führte über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde am 13. Oktober 2020 eine mündliche Verhandlung durch, an deren Ende das nunmehr angefochtene, über rechtzeitigen Antrag sodann mit 30. Oktober 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis verkündet wurde. Damit wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen und gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ausgesprochen, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

6 Das BVwG stellte fest, nach Beendigung ihrer selbstständigen Tätigkeit sei die Revisionswerberin ‑ mit einer Unterbrechung vom 13. April 2019 bis 26. Mai 2019 ‑ von 13. Februar 2019 bis 26. August 2019 als Reinigungskraft erwerbstätig gewesen. Sie habe für fünf Tage im Mai 2019 und dann von 17. September 2019 bis 24. November 2019 Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezogen, seit 25. November 2019 erhalte sie Krankengeld in der Höhe von 714,84 € monatlich. Die Revisionswerberin sei nicht selbsterhaltungsfähig und es sei davon auszugehen, dass sie wegen verschiedener ‑ im Rahmen der Beweiswürdigung näher angeführter ‑ gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht nur vorübergehend arbeitsunfähig sei. Sie verfüge über keine Einstellungszusage und habe keinen Pensionsantrag gestellt. Ihr Lebensgefährte beziehe seit etwa fünf Jahren Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung in der Höhe von rund 1.100,‑ € monatlich. Die Revisionswerberin und ihr Lebensgefährte teilten sich die Lebenshaltungskosten.

7 Daraus folgerte das BVwG in der rechtlichen Beurteilung nach Wiedergabe der im vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen und dazu ergangener Judikatur, es sei nicht hervorgekommen, dass die Revisionswerberin erspartes Vermögen besitze oder von ihrem Lebensgefährten derart finanziell unterstützt werde, dass sie über ausreichende Mittel zur Sicherung ihrer Existenz verfüge. In diesem Zusammenhang sind auch die Ausführungen in der Beweiswürdigung zu sehen, wonach sich die mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit der Revisionswerberin aus ihrem Bezug von „Sozialleistungen“ ergebe und sie neben ihrem Krankengeldbezug nur ein Guthaben auf ihrem Girokonto von 11,‑ € habe. Bei der nach § 9 BFA‑VG iVm § 66 Abs. 2 FPG vorgenommenen Interessenabwägung kam das BVwG dann „in einer Gesamtschau“ zum Schluss, das „zentrale Interesse“ der Revisionswerberin bestehe wohl darin, ihren Lebensunterhalt durch den aktuellen Bezug von Krankengeld zu sichern. Der „alleinige Umstand“, in Österreich „in den Genuss von Sozialleistungen“ zu kommen, könne aber ihrem Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet nicht zum Durchbruch verhelfen.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens ‑ Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet ‑ erwogen hat:

9 Die Revision erweist sich ‑ wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

10 Die gegenständliche Ausweisung hat ihre Rechtsgrundlage in § 66 Abs. 1 FPG. Danach können EWR‑Bürger dann ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG ‑ u.a. wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen nach § 51 NAG ‑ das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Die letztgenannte Einschränkung bedarf im vorliegenden Fall keiner weiteren Prüfung, weil das BVwG ‑ in der Revision unbestritten ‑ bezogen auf seinen Entscheidungszeitpunkt davon ausging, die Revisionswerberin sei nunmehr nicht bloß vorübergehend arbeitsunfähig und eine zeitnahe Eingliederung in den Arbeitsprozess sei nicht absehbar. Das wird im Übrigen durch das Revisionsvorbringen bestätigt, die Revisionswerberin habe mittlerweile aufgrund ihrer Erwerbsunfähigkeit einen Pensionsantrag gestellt. Im vorliegenden Fall stellt sich somit die Frage, ob der Revisionswerberin ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate zukam und noch zukommt.

11 Fallbezogen kommt ein Aufenthaltsrecht der Revisionswerberin als EWR‑Bürgerin nach § 51 Abs. 1 Z 1 oder Z 2 NAG in Betracht. Nach diesen Bestimmungen sind EWR‑Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind (Z 1) oder wenn sie für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen (Z 2).

12 Das BVwG hat den gegenständlichen Fall lediglich unter dem Gesichtspunkt des § 51 Abs. 1 Z 2 NAG beurteilt und das Bestehen eines Aufenthaltsrechts allein deshalb verneint, weil die Revisionswerberin im Sinne dieser Bestimmung nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge. Dabei ging es erkennbar davon aus, der Bezug von Krankengeld stelle die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen dar. Diesbezüglich wird in der Begründung der Zulässigkeit der Revision zu Recht geltend gemacht, dass es sich bei Krankengeld nicht um eine Sozialhilfeleistung, sondern um eine Versicherungsleistung handelt (vgl. § 117 Z 3 iVm §§ 138 ff ASVG; siehe etwa VwGH 20.6.1996, 95/19/0393). Das BVwG hätte daher ‑ worauf die Revision ebenfalls zutreffend verweist ‑ unter Berücksichtigung des von der Revisionswerberin bezogenen Krankengeldes eine konkrete Prüfung ihrer wirtschaftlichen Situation vornehmen müssen (vgl. unter Bezugnahme auf Judikatur des EuGH etwa VwGH 30.8.2018, Ra 2018/21/0047, 0048, Rn. 15, mit dem Hinweis auf VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0132, Rn. 10, mwN). Es hätte also für die Prüfung der Frage, ob der Revisionswerberin ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen, einer konkreten Einzelfallbeurteilung bedurft, bei der sich das BVwG im Detail mit den persönlichen Verhältnissen der Revisionswerberin und ihres Lebensgefährten hätte auseinanderzusetzen müssen (siehe in diesem Sinn VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0222, Rn. 13/14, mwN). Das wurde bisher unterlassen.

13 Gemäß § 53a Abs. 1 NAG erwerben EWR‑Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 51 NAG nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Für die Beurteilung des Vorliegens eines rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthaltes gemäß § 53a Abs. 1 NAG ist die Erfüllung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 NAG in diesem Zeitraum erforderlich (vgl. VwGH 4.10.2018, Ra 2017/22/0218, Rn. 16/17). Den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts durch die Revisionswerberin verneinte das BVwG ohne weitere Begründung allein mit dem Hinweis auf das Fehlen „eines über fünf Jahre rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet“.

14 Dabei hätte das BVwG aber zunächst auf die Bestimmung des § 53a Abs. 2 Z 1 NAG Bedacht nehmen müssen, wonach die Kontinuität des Aufenthalts im Bundesgebiet nicht durch Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr unterbrochen wird. Demzufolge wäre im vorliegenden Fall auch der Aufenthalt der Revisionswerberin in Österreich zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Zeitraum von April 2015 bis Dezember 2018 für die Frage einzubeziehen gewesen, ob sie mittlerweile ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat. Für den anschließenden Zeitraum bis zum Beginn des Bezugs von Krankengeld ab Ende November 2019 kam der Revisionswerberin offenbar die Eigenschaft als „Arbeitnehmerin“ im Sinne des § 51 Abs. 1 Z 1 NAG zu, zumal nicht nur eine (selbst geringfügige) unselbständige Beschäftigung, sondern auch das nachhaltige Bemühen um eine Arbeitsstelle, sofern dieses Bemühen objektiv nicht aussichtslos ist, ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht vermitteln kann (vgl. dazu des Näheren unter Bezugnahme auf Judikatur des EuGH das Erkenntnis VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0130, Rn. 12/13, mwN). Davon ausgehend hätte sich dann für den restlichen Zeitraum von etwas mehr als vier Monaten ‑ so nicht ohnehin die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 Z 2 NAG vorlagen ‑ die Frage gestellt, ob der Revisionswerberin die „Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmerin“ gemäß § 51 Abs. 2 Z 1 NAG erhalten blieb, weil sie wegen Krankheit damals nur vorübergehend arbeitsunfähig gewesen ist oder ob ‑ wie das BVwG für seinen Entscheidungszeitpunkt annahm ‑ schon damals eine dauernde Arbeitsunfähigkeit vorlag. Damit hat sich das BVwG in Verkennung der Rechtslage nicht befasst. Wäre Letzteres gegeben, dann käme in der gegenständlichen Konstellation aber allenfalls noch § 53a Abs. 3 Z 2 NAG zum Tragen, wonach „EWR‑Bürger gemäß § 51 Abs. 1 Z 1 NAG“ vor Ablauf der Fünfjahresfrist das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, wenn sie sich seit mindestens zwei Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten haben und ihre Erwerbstätigkeit infolge einer dauernden Arbeitsunfähigkeit aufgeben, wobei die Voraussetzung der Aufenthaltsdauer entfällt, wenn die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit eingetreten ist, auf Grund derer ein Anspruch auf Pension besteht, die ganz oder teilweise zu Lasten eines österreichischen Pensionsversicherungsträgers geht. Das Bestehen eines solchen Pensionsanspruches ließe sich aber ‑ anders als das BVwG an einer Stelle seines Erkenntnisses im Zusammenhang mit der Frage einer „Integration am österreichischen Arbeitsmarkt“ meint ‑ nicht schon mit dem Hinweis auf „die Angaben“ der Revisionswerberin verneinen.

15 Hätte die Revisionswerberin aber ‑ was nach den Ausführungen in der vorstehenden Rn. nicht ausgeschlossen ist ‑ bereits ein Daueraufenthaltsrecht erworben, so käme eine Ausweisung nach dem letzten Halbsatz des § 66 Abs. 1 FPG von vornherein nur dann in Betracht, wenn ihr weiterer Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, wofür bisher keine Anhaltspunkte vorliegen.

16 Vor diesem rechtlichen Hintergrund wird das BVwG somit im fortzusetzenden Verfahren eine Neubeurteilung der Zulässigkeit einer Ausweisung der Revisionswerberin aus dem österreichischen Bundegebiet vorzunehmen haben. Es erübrigt sich daher in diesem Stadium auf das in der Revision auch noch kritisierte Ergebnis der Interessenabwägung einzugehen.

17 Das angefochtene Erkenntnis war somit schon aus den genannten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

18 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. März 2021

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