Normen
AVG §45 Abs2
VwGVG 2014 §25
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020080043.L00
Spruch:
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Österreichische Gesundheitskasse hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 2.212,80 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 19. Juli 2017 stellte die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse fest, dass der Mitbeteiligte an näher genannten Tagen in der Zeit von 6. Jänner 2014 bis 20. März 2015 und im Zeitraum von 1. April 2015 bis 17. Oktober 2016 auf Grund seiner für die revisionswerbende Partei in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit ausgeübten Tätigkeit als Dienstnehmer gemäß § 4 Abs. 1 Z 1 iVm. Abs. 2 ASVG und § 1 Abs. 1 lit. a AlVG der Pflicht(Voll)‑versicherung in der Kranken‑, Unfall‑, Pensions‑ und Arbeitslosenversicherung unterlegen sei.
2 Mit Bescheid vom 20. Juli 2017 verpflichtete die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse die revisionswerbende Partei ‑ auf der Grundlage der Feststellung der Pflichtversicherung des Mitbeteiligten ‑ allgemeine Beiträge in der Höhe von € 18.838,96, Beiträge zur Betrieblichen Vorsorge von € 636,48 sowie einen Beitragszuschlag von € 1.011,65 zu entrichten.
3 Gegen diese Bescheide erhob die revisionswerbende Partei Beschwerden. Sie beantragte jeweils die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, stellte Beweisanträge und brachte vor, die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse sei von unrichtigen Annahmen hinsichtlich der Tätigkeit des Mitbeteiligten für die revisionswerbende Partei ausgegangen. Den Mitbeteiligten habe insbesondere bei seiner tageweisen Tätigkeit bis zum März 2015 keine persönliche Arbeitspflicht getroffen. In der Zeit von 1. April 2015 bis 17. Oktober 2016 sei der Mitbeteiligte Geschäftsführer und Gesellschafter der revisionswerbenden Partei gewesen, wobei er keinen Weisungen unterlegen sei.
4 Mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden der revisionswerbenden Partei gegen diese Bescheide als unbegründet ab und sprach aus, dass Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig seien.
5 Das Bundesverwaltungsgericht traf‑aufgrund des Akteninhaltes ‑ Feststellungen zur Tätigkeit des Mitbeteiligten für die revisionswerbende Partei, wobei es sich im Wesentlichen den Annahmen der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse anschloss. Daraus folgerte es in rechtlicher Hinsicht, es seien die Merkmale eines Beschäftigungsverhältnisses nach § 4 Abs. 2 ASVG vorgelegen. Eine Unrichtigkeit der Beitragsnachverrechnung habe die revisionswerbende Partei nicht aufgezeigt. Eine mündliche Verhandlung habe jeweils entfallen können, weil dadurch eine weitere Klärung des Sachverhaltes nicht zu erwarten wäre.
6 Die gegen diese Erkenntnisse erhobenen Revisionen wurden wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung verbunden. Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber nach Durchführung von Vorverfahren, in denen der Mitbeteiligte, die Österreichische Gesundheitskasse und der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Revisionsbeantwortungen erstatteten, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Zur Zulässigkeit der Revisionen macht die revisionswerbende Partei jeweils geltend, indem das Bundesverwaltungsgericht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe, obwohl der entscheidungswesentliche Sachverhalt strittig gewesen sei, sei es von (näher dargestellter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
8 Die Revisionen sind aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.
9 Unter Beachtung, dass die revisionswerbende Partei in ihren Beschwerden die Durchführung mündlicher Verhandlungen beantragt hat, durfte das Bundesverwaltungsgericht nach § 24 Abs. 4 VwGVG von der Verhandlung nur dann absehen, wenn die Akten hätten erkennen lassen, dass durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten war, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstanden.
10 Den Sachverhaltsannahmen, auf die die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse und das Bundesverwaltungsgericht die rechtliche Beurteilung hinsichtlich des Vorliegens einer Pflichtversicherung des Mitbeteiligten gegründet haben, ist die revisionswerbende Partei ‑ wie dargestellt ‑ entgegengetreten. Vor diesem Hintergrund lagen in den vorliegenden Verfahren, in denen „civil rights“ im Sinn des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beurteilen waren, die Voraussetzungen des Absehens von einer mündlichen Verhandlung nicht vor. Es gehört gerade im Fall zu klärender bzw. widersprechender prozessrelevanter Behauptungen ‑ wie hier vorliegend ‑ zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichtes, dem auch im § 25 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Ist eine Verhandlung nach Art. 6 EMRK geboten, dann ist eine Prüfung der Relevanz des Verfahrensmangels der Unterlassung einer solchen Verhandlung nicht durchzuführen (vgl. VwGH 25.4.2019, Ra 2019/08/0032, mwN).
11 Da die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung somit auf einer Verkennung der Vorgaben des § 24 VwGVG beruhte, waren die angefochtenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
12 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. April 2021
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