Normen
StGB §105 Abs1
StPO 1975 §86 Abs2
StVO 1960 §2 Abs1 Z10
StVO 1960 §76 Abs1
StVO 1960 §8 Abs4
VStG §1
VStG §5 Abs1
VStG §5 Abs2
VStG §6
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1987:1987180092.X00
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 9.690,‑‑ binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Laut der durch den Sicherheitswachebeamten S L der Bundespolizeidirektion Wien erstatteten Anzeige vom 9. Oktober 1986 habe der Beschwerdeführer an diesem Tag um 21.40 Uhr in W, R‑straße 5, als Fußgänger sich ca. 1 m vom Gehsteig entfernt auf die Fahrbahn gestellt und einen vorschriftswidrig abgestellten Pkw am Wegfahren gehindert, indem er sich unmittelbar vor das Fahrzeug gestellt habe. Nach Versuchen des Lenkers, dem Fußgänger auszuweichen, habe der Beschwerdeführer sich wieder an anderer Stelle vor das Fahrzeug gestellt. Die Absicht des Beschwerdeführers sei unverkennbar die gewesen, den Lenker des Pkws am Fortfahren zu hindern. Der Meldungsleger S L wurde am 20. Februar 1987 als Zeuge vernommen und gab an:
„Ich kann mich an gegenständliche Amtshandlung erinnern. Ich habe das Verhalten des Angezeigten ausführlich in der Anzeige geschildert und verweise ich auf diese Angaben; ich erhebe diese zu meiner heutigen Zeugenaussage.“
Auch ein weiterer am Tatort zur Tatzeit anwesender Sicherheitswachebeamter namens K wurde am 11. Februar 1987 als Zeuge vernommen, bekundete jedoch nicht, daß der Beschwerdeführer auf der Fahrbahn gestanden sei. Vielmehr ging die Zeugenaussage dahin, daß mehrere Fahrzeuge vorschriftswidrig auf dem Gehsteig geparkt gewesen seien und daß der Beschwerdeführer den Lenker eines dieser Fahrzeuge gehindert habe, von dort wegzufahren.
Der Beschwerdeführer verantwortete sich einerseits im Einspruch gegen die erlassene Strafverfügung damit, daß er anfangs auf dem Gehsteig stehend den Lenker eines Pkws am Wegfahren gehindert habe, später habe er dabei die Fahrbahn betreten. Andererseits war in der Niederschrift vom 16. April 1987 von letzterem Umstand nicht mehr die Rede, der Beschwerdeführer gab nur an, auf dem Gehsteig stehend einen Lenker am Wegfahren gehindert zu haben; ferner gab er an, daß der Lenker des Pkws gegen seine, des Beschwerdeführers, Beine gefahren sei; da „die Polizei“ gerade herbeigekommen sei, habe er verlangt, daß der Polizist gegen diesen Autofahrer Anzeige erstatte.
Mit Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Wien vom 4. Mai 1987 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe am 9. Oktober 1986 um 21.40 Uhr in W, R‑straße 5, als Fußgänger nicht den dort befindlichen Gehsteig benützt, sondern sei auf der Fahrbahn gestanden, wodurch ein Pkw am Wegfahren gehindert worden sei. Er habe hiedurch eine Verwaltungsübertretung nach S 99 Abs. 3 lit. a in Verbindung mit § 76 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO) begangen; es wurde eine Geld‑ und eine Ersatzarreststrafe verhängt.
In der Begründung des Straferkenntnisses hieß es unter anderem, die Verantwortung des Beschwerdeführers sei durch die Zeugenaussagen zweier Sicherheitswachebeamter eindeutig widerlegt.
Über Berufung des Beschwerdeführers bestätigte die Wiener Landesregierung mit Bescheid vom 16. Juni 1987 das erstinstanzliche Straferkenntnis. In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, nach den Zeugenaussagen beider Sicherheitswachebeamter habe der Beschwerdeführer die Fahrbahn als Fußgänger vorschriftswidrig benützt, indem er sich auf dieser aufgehalten habe, ohne die Absicht gehabt zu haben, diese zu überqueren. Der Beschwerdeführer sei nicht genötigt gewesen, die Fahrbahn zu betreten, vielmehr habe er dies mutwillig in der Absicht getan, den Lenker eines Pkws am Wegfahren zu hindern. Die Berufungsbehörde schenke der Zeugenaussage des Meldungslegers ‑ von der Zeugenaussage des zweiten Sicherheitswachebeamten ist in diesem Zusammenhang nicht mehr die Rede ‑ mehr Glauben als der Verantwortung des Beschwerdeführers. § 76 Abs. 1 StVO sei sehr wohl auf einen solchen Sachverhalt anwendbar. Auch wenn der Lenker des Pkws sein Fahrzeug vorschriftswidrig abgestellt haben sollte, sei es nicht Sache des Beschwerdeführers, sich in die Rolle des Hüters des Gesetzes zu versetzen. Er hätte das vorschriftswidrig abgestellte Fahrzeug nicht am Wegfahren hindern dürfen. Ein Lokalaugenschein sei nicht durchzuführen gewesen, weil die Tat nicht in allen wesentlichen Phasen rekonstruierbar sei. Auch beim Beweisantrag auf Vernehmung des Fahrzeuglenkers handle es sich um einen bloßen Erkundigungsbeweis.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Es trifft zwar zu, daß bei Unmöglichkeit der Gehsteigbenützung wegen dessen Verstellung durch Kraftfahrzeuge ein Fußgänger in sinngemäßer Anwendung des § 76 Abs. 1, zweiter Satz StVO auch das Straßenbankett, wenn auch dieses fehlt, den äußersten Fahrbahnrand benützen dürfte, doch hat der Beschwerdeführer nie behauptet und es geht aus dem gesamten Akteninhalt nicht hervor, daß sich der Beschwerdeführer deshalb auf der Fahrbahn aufgehalten habe, weil er auf dieser, anstatt auf dem versperrten Gehsteig, gehen wollte. Das Stehen auf der Fahrbahn kann aber nicht damit begründet werden, daß der Gehsteig versperrt gewesen sei.
Es trifft zu, daß die in § 76 Abs. 1, erster Satz StVO enthaltene Verpflichtung, auf Gehsteigen oder Gehwegen zu gehen und das darin enthaltene Verbot, überraschend die Fahrbahn zu betreten, Ausnahmen im Sinne einer Rechtfertigung zuläßt. Ein solcher Rechtfertigungsgrund ist im § 86 Abs. 2 StPO normiert. Diese Bestimmung lautet:
„Liegen hinreichende Gründe für die Annahme vor, daß eine Person eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung ausführe, unmittelbar vorher ausgeführt habe, oder daß nach ihr wegen einer solchen Handlung gefahndet werde, so ist jedermann berechtigt, diese Person auf angemessene Weise anzuhalten. Er ist jedoch verpflichtet, die Anhaltung unverzüglich dem nächsten Sicherheitsorgan anzuzeigen.“
Da eine Verwaltungsübertretung ‑ hier die nach § 8 Abs. 4 StVO ‑ keine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung darstellt, konnte sich der Beschwerdeführer, sofern er sich nur deshalb auf der Fahrbahn aufgehalten hatte, um den Lenker des Pkws wegen dieser Verwaltungsübertretung anzuzeigen, nicht auf § 86 Abs. 2 StPO berufen.
Der Beschwerdeführer hat jedoch bereits im Verwaltungsstrafverfahren erster Instanz, nämlich sowohl in seinem Einspruch gegen die Strafverfügung als auch in seiner Niederschrift am 16. April 1987 behauptet, der Lenker des Pkws habe ihn „mit der Stoßstange wegdrücken“ wollen, er sei „gegen meine Beine gefahren“; im Zusammenhalt mit dem letzterwähnten Vorbringen bekundete der Beschwerdeführer, er habe von „der Polizei“ verlangt, daß gegen diesen Autofahrer Anzeige erstattet werde.
In Erwägung des Umstandes, daß das vom Beschwerdeführer behauptete Verhalten des Lenkers des Pkws das Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB darstellen könnte, wäre der Beschwerdeführer in seiner Tathandlung ‑ Stehen auf der Fahrbahn ‑ allenfalls durch S 86 Abs. 2 StPO gerechtfertigt gewesen. Voraussetzung dafür wäre, daß entweder der Tatbestand der Nötigung objektiv vorgelegen oder der Beschwerdeführer sich hinsichtlich des Vorliegens eines solchen Tatbestandes in entschuldbarem Irrtum befunden habe.
Diese Umstände wurden von der belangten Behörde nicht überprüft.
Die belangte Behörde hat somit den Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt ‑ nämlich der möglichen Rechtfertigung des Beschwerdeführers nach § 86 Abs. 2 StPO ‑ ergänzungsbedürftig belassen. Ihr Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §S 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers vom 30. Mai 1985, BGBl. Nr. 243. Das Mehrbegehren nach Stempelgebühren war abzuweisen, weil es als Beilage nur der Vorlage des angefochtenen Bescheides in einer Ausfertigung bedurfte.
Wien, 27. November 1987
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