Normen
B-VG Art83 Abs2
AsylG 2005 §3, §8, §10
AVG §68 Abs1
Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts für das Geschäftsjahr 2017 §6, §24
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2018:E1297.2018
Spruch:
I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.270,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die erst- und die zweitbeschwerdeführende Partei sind die Eltern der dritt- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien. Sie alle sind Staatsangehörige Nigerias. Nach rechtskräftigem Abschluss der Verfahren über ihre Anträge auf internationalen Schutz stellten die beschwerdeführenden Parteien am 23. März 2017 jeweils Folgeanträge auf internationalen Schutz. In ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) brachte die zweitbeschwerdeführende Partei u.a. erstmals vor, dass sie Opfer einer Genitalverstümmelung sei und befürchte, dass dies ihren beiden Töchtern, der viert- und der fünftbeschwerdeführenden Partei in Nigeria ebenso drohe.
2. Mit Bescheiden vom 6. Juli 2017 wies das BFA die Anträge gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I.). Es erteilte den beschwerdeführenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG und stellte fest, dass die Abschiebung gemäß §46 FPG nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt II.), wobei gemäß §55 Abs1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt III.). Schließlich erließ das BFA gemäß §53 Abs1 iVm Abs2 FPG ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt IV.).
3. Die dagegen erhobene Beschwerde, in der zur befürchteten Genitalverstümmelung der viert- und der fünftbeschwerdeführenden Partei näher ausgeführt wurde, dass es ein Ritual der Boko Haram sei, minderjährige Töchter von christlichen Familien zu beschneiden, wies das Bundesverwaltungsgericht mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass die jeweiligen Spruchpunkte IV. (Einreiseverbot) behoben werden. Die Entscheidung erfolgte durch einen Richter männlichen Geschlechts.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B‑VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht und das BFA haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
II. Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1. §20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 68/2013, lautet:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."
2. Die maßgeblichen Bestimmungen der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes für das Geschäftsverteilungsjahr vom 1. Februar 2017 bis 31. Jänner 2018 (im Folgenden: GV 2017) lauten auszugsweise:
"§6. Unzuständigkeit
(1) Eine Richterin oder ein Richter ist im Sinne dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn
1. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache auf Grund gesetzlicher Bestimmungen nicht zugewiesen hätte werden dürfen;
[…]
4. sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist;
5. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache nach den Bestimmungen der jeweils bei der Zuweisung geltenden Geschäftsverteilung nicht zugewiesen hätte werden dürfen (z.B. wegen Annexität).
(2) Setzt die Richterin oder der Richter, deren/dessen Gerichtsabteilung die Rechtssache zugewiesen worden ist, einen außenwirksamen Akt oder erhebt sie oder er nicht rechtzeitig eine Unzuständigkeitsanzeige, so wird diese Richterin oder dieser Richter für die betreffende Rechtssache zuständig, sofern keine Unzuständigkeit iSd. Abs1 Z1, 2 oder 4 vorliegt. […]
(3) Ist eine Richterin oder ein Richter als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 unzuständig und wird aus diesem Grund diese Rechtssache erneut zugewiesen, so verliert sie oder er damit gleichzeitig auch die Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex sind oder zu denen diese Rechtssache annex ist.
[…]
§24. Zuweisung von Annexsachen
(1) Annexsachen werden ohne Bedachtnahme auf die allgemeine Zuweisung einzeln den dafür jeweils zuständigen Gerichtsabteilungen zugewiesen.
(2) Annexsachen sind Rechtssachen derselben Zuweisungsgruppe, die nach Maßgabe der Bestimmungen der folgenden Absätze zu einer oder mehreren anderen, früher zugewiesenen Rechtssachen im Verhältnis der Annexität stehen.
(3) Annexität liegt in folgenden Fällen vor:
[…]
2. wenn sich eine Rechtssache nach dem AsylG 2005, dem BFA-VG, dem FPG oder dem GVG-B 2005 (Zuweisungsgruppen AFR, VIS, DUB oder SCH) auf ein Familienmitglied einer Person bezieht, auf die sich ein anderes anhängiges Verfahren nach dem AsylG 2005, dem BFA-VG (in diesen Fällen einschließlich §22a BFA-VG), dem FPG oder dem GVG-B 2005 (Zuweisungsgruppen AFR, VIS, DUB oder SCH bzw ASY oder FRE idF GV 2014) bezieht (Bezugsperson); Familienmitglieder in diesem Sinne sind:
a) der Ehegatte oder der eingetragene Partner der Bezugsperson oder eine Person, die mit der Bezugsperson im Sinne des Art8 EMRK ein Familienleben in Form einer Lebensgemeinschaft führt, sowie die Geschwister, Eltern und Kinder des Ehegatten oder des eingetragenen Partners oder des Lebensgefährten;
[…]."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes unter anderem dann verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).
Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
2.1. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nach dem insoweit klaren Gesetzeswortlaut nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Verwaltungsbehörde die Einvernahme durch Organwalter des anderen Geschlechts und vor dem Bundesverwaltungsgericht die Führung der Verhandlung durch Richter des anderen Geschlechts (vgl bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012 ua).
Nach §20 Abs2 AsylG 2005 ist daher eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde geltend macht, gleich bei Beschwerdeanfall und nicht erst dann, wenn sich nach dessen Prüfung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als notwendig erweist, einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen, sofern der Asylwerber nicht anderes verlangt. Andernfalls würde der ursprünglich zuständige Richter oder Senat eine inhaltliche Entscheidung treffen, die nach der – verfassungsrechtlich zutreffenden – Festlegung des Gesetzgebers nur das entsprechend der Behauptung des Asylwerbers betreffend einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Anfang an richtig zusammengesetzte Organ des Bundesverwaltungsgerichtes treffen darf (vgl VfSlg 19.671/2012). Die Zuständigkeit wird also bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem BFA bzw in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hat (VfGH 20.6.2018, E1273/2018 ua).
2.2. Verfahren über Folgeanträge sind von den Bestimmungen des §20 Abs1 und 2 AsylG 2005 nicht ausgenommen (zur Konstellation einer Entscheidung des Asylgerichtshofes über einen Bescheid, mit dem das Bundesasylamt über einen zulässigen Folgeantrag in der Sache entschieden hat, siehe VfGH 10.10.2012, U1606/11). Auch wenn die Behörde einen Folgeantrag auf internationalen Schutz gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurückweist, hat das über die dagegen erhobene Beschwerde entscheidende Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen des Asylwerbers dahingehend zu prüfen, ob ein erstmals vorgebrachter Fluchtgrund, soweit er sachverhaltsändernde Elemente enthält, einen glaubhaften Kern aufweist (zB VwGH 17.9.2008, 2008/23/0684; 2.8.2018, Ra 2018/19/0294) und ob er im Lichte des Art3 EMRK einer Rückführung aktuell entgegensteht (vgl VfGH 16.9.2013, U1268/2013, sowie VfSlg 19.466/2011; VfGH 23.9.2016, E1724/2015; 13.12.2017, E223/2017). Darüber, ob die gemäß §21 Abs1 BFA-VG grundsätzlich vorgesehene mündliche Verhandlung gemäß Abs7 leg.cit. iVm §24 Abs2 Z1 VwGVG entfallen kann, weil der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei zurückzuweisen ist, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall. Im Anwendungsbereich des §20 Abs2 AsylG 2005 darf diese inhaltliche Beurteilung nach den vorstehenden Überlegungen daher nur durch einen Einzelrichter desselben Geschlechts oder einen aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat vorgenommen werden, es sei denn, die Partei verlangt anderes.
2.3. Die zweitbeschwerdeführende Partei hat in ihrer Einvernahme vor dem BFA über den gegenständlichen Folgeantrag sowie in ihrer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht vorgebracht, dass sie Opfer einer Genitalverstümmelung sei und befürchte, ihren Töchtern könnte bei einer Rückkehr nach Nigeria Ähnliches widerfahren. Sie hat damit einen Eingriff in ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das ihrer Töchter im Sinne des §20 Abs2 AsylG 2005 behauptet.
Indem das Bundesverwaltungsgericht die vorliegende Rechtssache durch einen Richter männlichen Geschlechts entschieden hat, obgleich §20 Abs2 AsylG 2005 im vorliegenden Fall anzuwenden war und ein Abgehen von der sich daraus ergebenden Zuständigkeit einer Richterin von den zweit-, viert- und fünftbeschwerdeführenden Parteien nicht verlangt wurde, hat es diese in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (vgl VfSlg 19.671/2012).
2.4. Da die Entscheidung betreffend die zweit-, viert- und fünftbeschwerdeführenden Parteien durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wurde, schlägt dieser Mangel gemäß §6 Abs1 Z4 und 5 sowie Abs3 GV 2017 iVm §24 Abs1, 2 und Abs3 Z2 lita GV 2017 auf die Entscheidung betreffend die erst- und die drittbeschwerdeführende Partei durch (vgl zB VfGH 20.6.2018, E1273/2018 ua). Auch hinsichtlich dieser liegt daher insoweit jeweils eine Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter vor.
IV. Ergebnis
1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 545,– sowie Umsatzsteuer in der Höhe von € 545,– enthalten.
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