vorheriges Dokument
nächstes Dokument

5.2. „Schriftliche Zeugenaussagen“?

Kolland1. AuflFebruar 2024

Zeugenbeweis

5
Eine schriftliche Aussage ist keine Aussage. Die „schriftliche Zeugenaussage“ oder „eidesstättige Erklärung“, wie sie öfter genannt wird, ist als grundsätzlich zulässiger Beweis durch Urkunden zu werten, die eine mündliche Aussage aber nicht ersetzen kann.1414Während die ältere Rsp urkundliche Festhaltungen von Zeugen, die eine Aussage darstellen sollen, noch als unzulässig betrachtet hat, hat die jüngere Rsp erkannt, dass es sich dabei lediglich um eine der zahllosen Erkenntnisquellen handelt, die im offenen Beweismittelsystem der ZPO dazu dienen können, den rechtserheblichen Sachverhalt zu klären.
Beispielhaft für die ältere Rsp ist neben RS0036711 („als Beweismittel unzulässig“) der Rechtssatz RS0040532, der besagt, dass durch Feststellungen, die sich ausschließlich auf „eidesstättige Erklärungen“ stützten, ohne deren Verfasser in der mündlichen Streitverhandlung als Zeugen zu vernehmen, das Gebot der Mündlichkeit des Zeugenbeweises missachtet und damit eines der Grundprinzipien des österreichischen Verfahrensrechtes verletzt werde. Zu diesem Rechtssatz ist zunächst zu bemerken, dass er - anders als RS0036711 - keine gänzliche Unzulässigkeit solcher Beweise behauptet (siehe insb die drei letzten darunter zitierten Entscheidungen 4 Ob 26/18d, 10 Ob 37/15m und 6 Ob 84/09k, die jeweils zum Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 7 [neue Beweismittel] ergangen sind, und nicht einmal mehr den Text des Rechtssatzes wiedergeben). Der vierte Beisatz dieses Rechtssatzes ist überdies missverständlich und in seiner Allgemeinheit auch unrichtig. Er besagt, dass solchen „vorgelegten Urkunden (gemeint: schriftlichen „Aussagen“) nur die Bedeutung eines Hilfsbeweises, nämlich für die Rechtzeitigkeit und Relevanz des eigentlichen Beweismittels der Zeugenvernehmung, beizumessen“ sei. Der Beisatz wird zum einen erst verständlich, wenn er auf den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 7 bezogen wird. Was damit zum anderen wohl ausgedrückt werden sollte, ist, dass die Urkunde nur gegen den Wiederaufnahmekläger verwendet werden kann, sofern sich daraus ergibt, dass dieser den Zeugenbeweis schon im Ursprungsverfahren hätte stellen können, weil ihm die Existenz und eine zur Ladung taugliche Anschrift des Zeugen bereits damals bekannt war oder hätte bekannt sein müssen.
Richtig hingegen 1 Ob 39/15i mit ausführlicher Begründung (schwer erklärbar ist, warum sich diese Entscheidung auch unter RS0036711 zitiert findet, der im Sinne der älteren Rsp mehr oder minder das Gegenteil dessen besagt, was die Entscheidung zum Ausdruck bringt); vgl zur jüngeren Rsp auch 6 Ob 111/15i; RS0128841.
Zur schriftlichen „Vernehmung“ von Personen, die Immunität genießen, siehe § 37 Abs 4 RHEZiv 2020.
Zum Umgang mit missverständlichen, veralteten bzw falschen Rechtssätzen vgl Kapitel A.2., Rz 9 f.

Sie möchten den gesamten Inhalt lesen?

Melden Sie sich bei Lexis 360® an.
Anmelden

Sie haben noch keinen Zugang?
Testen Sie Lexis 360® zwei Wochen kostenlos!
Jetzt testen!

Stichworte