VwGH Ra 2022/09/0050

VwGHRa 2022/09/005026.4.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofräte Dr. Doblinger und Mag. Feiel sowie die Hofrätinnen Dr. Koprivnikar und Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die außerordentliche Revision des A B in C, vertreten durch die Pallauf Meißnitzer Staindl & Partner, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Petersbrunnstraße 13, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. März 2022, L517 2249789‑1/4E, betreffend Antrag auf Ausstellung einer Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 Ausländerbeschäftigungsgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Zell am See), zu Recht erkannt:

Normen

AuslBG §1 Abs2
AuslBG §20 Abs4 idF 2013/I/072
AuslBG §3 Abs8
B-VG Art140 Abs1
B-VG Art140 Abs7
COVID-19-VwBG 2020 §3
MRK Art6
MRK Art6 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4
VwGVG 2014 §25
VwGVG 2014 §44
VwGVG 2014 §48
VwRallg
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2
12010P/TXT Grundrechte Charta Art52 Abs3
12019W/TXT(02) EU-Austrittsabk Vereinigtes Königreich

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022090050.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem im Beschwerdeverfahren ergangenen angefochtenen Erkenntnis vom 21. März 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht den Antrag des Revisionswerbers, eines britischen Staatsangehörigen, vom 6. Juni 2021 auf Ausstellung einer „Bestätigung des unbeschränkten Arbeitsmarktzuganges gemäß § 3 Abs. 8 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) für Art. 50 EUV‑Grenzgängerinnen und Grenzgänger“ gemäß § 1 Abs. 2 lit. l und § 3 Abs. 8 AuslBG in Verbindung mit Art. 26 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (in der Folge kurz: Austrittsabkommen) ab.

2 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung dabei zugrunde, dass der Revisionswerber über einen Wohnsitz in Großbritannien verfüge und seit 1. Mai 2021 einen Nebenwohnsitz in Österreich habe.

3 Er habe von 12. Februar 2017 bis 26. Februar 2017 bei einer näher genannten Skischule in Österreich sowie von 24. Dezember 2017 bis 8. Jänner 2018, von 11. Februar 2018 bis 3. März 2018, von 23. Dezember 2018 bis 10. Jänner 2019, von 10. Februar 2019 bis 8. März 2019 und von 22. Dezember 2019 bis 3. Jänner 2020 bei einer anderen Skischule in Österreich gearbeitet. Seither sei er nicht mehr (als Skilehrer) in Österreich erwerbstätig gewesen. Eine Wiederaufnahme der Beschäftigung als Skilehrer in der Wintersaison 2021/22 und Fortsetzung der Ausbildung im November 2021 habe nicht festgestellt werden können.

4 Der Revisionswerber sei nach seiner saisonalen Beschäftigung als Skilehrer stets nach Großbritannien zurückgekehrt, wobei er sich in den Zeiten seiner Nichtbeschäftigung nicht beim zuständigen Arbeitsmarktservice in Österreich arbeitslos gemeldet habe.

5 Der Revisionswerber habe in den Jahren 2015 bis 2018 diverse Ausbildungen als Skilehrer beim Wiener Ski‑ und Snowboardlehrerverband in Österreich absolviert und dort an den Lehrgängen „Skilehrer‑Anwärter“ und „Landesskilehrer 1. Teil“ teilgenommen sowie den Alpinkurs für Ski‑ und Snowboardlehrer bestanden. Die Ausbildung zum Landesskilehrer habe er absolviert, die Prüfung allerdings nicht bestanden.

6 Rechtlich führte das Verwaltungsgericht fallbezogen zusammengefasst aus, dass der Revisionswerber weder eine wirtschaftliche Tätigkeit nach Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ‑ Beschäftigung ‑ noch nach Art. 49 AEUV ‑ selbständige Erwerbstätigkeit ‑ in Österreich ausübe, und schon deshalb nicht unter die Definition eines „Grenzgängers“ im Sinn des Art. 9 lit. b des Austrittsabkommens falle. Selbst wenn er nach wie vor saisonweise als Skilehrer in Österreich tätig wäre, würde er ‑ so führte das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf Punkt 1.1.4. des Leitfadens zum Austrittsabkommen aus ‑ nicht als Grenzgänger im Sinn dieser Bestimmung gelten, müsse er dafür doch in einem oder mehreren EU‑Staat(en) erwerbstätig sein, in welchem(n) er nicht wohne. Der Revisionswerber wohne seit 1. Mai 2021 jedoch ‑ wenn auch nur mit Nebenwohnsitz ‑ in Österreich.

7 Zudem sei Österreich weder Aufnahme- noch Arbeitsstaat im Sinn der Begriffsbestimmungen des Art. 9 lit. c und d sublit. ii des Austrittsabkommens. So habe sich der Revisionswerber zwar vor dem 31. Dezember 2020 (Ende des Übergangszeitraums) ‑ konkret bis 3. Jänner 2020 ‑ im Einklang mit dem Unionsrecht in Österreich aufgehalten, doch sei sein Aufenthalt am Ende des Übergangszeitraums (31. Dezember 2020) mangels ausgeübter Erwerbstätigkeit nicht gemäß Punkt 1.1.3.2. des Leitfadens zum Austrittsabkommen in Österreich weitergegangen. Seine bis 3. Jänner 2020 zurückgelegten Aufenthaltszeiten in Österreich seien daher unbeachtlich. Der Revisionswerber übe außerdem seit 4. Jänner 2020 ‑ und somit nach Ende des Übergangszeitraums ‑ keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr als Grenzgänger in Österreich aus. Art. 24 Abs. 3 des Austrittsabkommens für abhängig beschäftigte Grenzgänger, wonach ein solcher das Recht habe, nach Art. 14 dieses Abkommens in den Arbeitsstaat ein‑ und aus dem Arbeitsstaat auszureisen, und die Rechte zu behalten, die er dort als Arbeitnehmer genossen habe, sofern auf ihn eine der in Art. 7 Abs. 3 lit. a, b, c und d der Richtlinie 2004/38/EG angeführten Bedingungen zutreffe, selbst wenn er seinen Wohnsitz nicht in den Arbeitsstaat verlege, käme mangels Grenzgängereigenschaft daher nicht zur Anwendung. Das zur Beibehaltung seiner Arbeitnehmereigenschaft erstattete Vorbringen, wonach die Liste der in Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG aufgezählten Umstände nach der EuGH‑Rechtsprechung nicht erschöpfend sei, sowie zu seinen besonderen Umständen (saisonale, auf den hier bestehenden Wintertourismus ausgerichtete Erwerbstätigkeit als Skilehrer in Österreich, fortlaufend vorgenommene einschlägige Ausbildungen und die pandemiebedingte „Nichtfortsetzung“ der Arbeitstätigkeit zum Ende des Übergangszeitraums) gehe damit ins Leere. Ungeachtet dessen träfen die in Art. 7 Abs. 3 lit. a bis d der Richtlinie 2004/38/EG aufgezählten Umstände hier nicht zu.

8 Sowohl aus dem Wortlaut des Abkommens als auch aus jenem des Leitfadens ergäbe sich übereinstimmend, dass der Revisionswerber nach dem Übergangszeitraum (31. Dezember 2020) mangels Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit gemäß Art. 45 oder 49 AEUV in Österreich kein Grenzgänger im Sinn des Austrittsabkommens sei. Er habe daher weder einen Anspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung über seinen Status als Grenzgänger gemäß Art. 26 des Austrittsabkommens, noch auf Ausstellung einer Ausnahmebestätigung gemäß § 3 Abs. 8 iVm § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG. Daran änderten auch die Informationen der britischen Regierung nichts, zumal der Revisionswerber bereits seit mehr als zwölf Monaten nicht mehr in Österreich gearbeitet habe.

9 Das Unterbleiben der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass der maßgebliche Sachverhalt durch die Aktenlage „hinreichend“ geklärt und durch eine mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten gewesen sei. Die Beschwerde habe zudem ausschließlich Rechtsfragen betroffen. Es habe daher auf die Einvernahme des Revisionswerbers verzichtet werden können. Eine unzureichende Sachverhaltsermittlung durch die belangte Behörde könne angesichts eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und insbesondere der Gewährung von Parteiengehör und eines unstrittig gebliebenen Sachverhalts nicht erblickt werden.

10 Da im Hinblick auf das erhöhte Infektionsrisiko durch die Corona‑Pandemie die Durchführung einer Verhandlung für alle Teilnehmer ein Gesundheitsrisiko darstelle und für das Bundesverwaltungsgericht der entscheidungswesentliche Sachverhalt feststehe und dieser auch keiner Ergänzung mehr bedürfe, werde auch aus diesem Grund von der Durchführung einer Verhandlung Abstand genommen.

11 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht fallunspezifisch mit dem Fehlen einer grundsätzlichen Rechtsfrage.

12 Der Verwaltungsgerichtshof, der bei seiner Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts nach § 25a Abs. 1 VwGG gemäß § 34 Abs. 1a VwGG nicht gebunden ist, hat erwogen:

13 Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit seiner Revision zunächst eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend. So habe er in der Beschwerde vorgebracht und zum Beweis dafür seine Einvernahme beantragt, dass er seine Berufstätigkeit in Österreich als saisonal tätiger Skilehrer nie eingestellt habe, sondern nur aufgrund der COVID‑19‑Beschränkungen seit dem 4. Jänner 2020 nicht mehr in einer österreichischen Skischule arbeiten oder weitere Ausbildungen habe machen können, obwohl er bereits Trainings bzw. Ausbildungen gebucht habe und auch Anfragen einer Skischule betreffend die Fortsetzung seiner Beschäftigung erhalten habe, wobei in weiterer Folge die Skigebiete wieder wegen COVID‑19 hätten schließen müssen. Auch zum Zeitpunkt der Beschwerde (am 16. Juli 2021) sei er ‑ wie er ebenfalls vorgebracht habe ‑ abermals von seiner Skischule gebeten worden, in der Wintersaison 2021 bis 2022 als Skilehrer zu arbeiten und er habe auch selbst vorgehabt, seine Ausbildung im November 2021 wieder fortzusetzen. Durch seine Einvernahme wäre das Verwaltungsgericht zur Überzeugung gelangt, dass er sehr wohl nach wie vor seine saisonale Tätigkeit als (noch in Ausbildung befindlicher) Skilehrer im Sinn einer kontinuierlichen Ausübung seiner Erwerbstätigkeit in Österreich fortgesetzt habe und habe fortsetzen wollen, wenngleich durch die Schließungen der Skigebiete aufgrund der COVID‑19‑bedingten Ausnahmesituation eine konkrete Beschäftigung bzw. ein konkreter Aufenthalt unmittelbar am Ende des Übergangszeitraums (31. Dezember 2020) verunmöglicht worden sei.

14 Die Feststellung, dass er seit 1. Mai 2021 ‑ wenn auch nur mit Nebenwohnsitz ‑ in Österreich wohne, entspreche weder seinem Vorbringen noch der Aktenlage. Wäre er einvernommen worden hätte er klargestellt, dass die seit 1. Mai 2021 angemietete Wohnung lediglich seiner Nächtigung während seiner saisonalen Beschäftigung in den Wintermonaten habe dienen sollen. Tatsächlich „gewohnt“ im Sinne des Austrittsabkommens habe er in dieser Wohnung nie.

15 Ferner fehle einschlägige Rechtsprechung zur Auslegung des Austrittsabkommens; dem Leitfaden der Europäischen Kommission komme kein Gesetzescharakter zu. So sei fraglich, was unter dem Begriff „wohnen“ zu verstehen sei. Es fehle daher Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dazu, inwieweit britische Staatsangehörige als Grenzgänger im Sinn des Austrittsabkommens gelten und ihnen ein Recht auf Ausstellung einer Ausnahmebestätigung gemäß § 3 Abs. 8 in Verbindung mit § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG bzw. nach Art. 26 des Austrittsabkommens zukomme, wenn diese bereits vor Ende des Übergangszeitraums (am 31. Dezember 2020) ihre Berufswahl auf eine saisonale Tätigkeit im österreichischen Wintertourismus ausgelegt und diesbezüglich über viele Jahre Ausbildungen absolviert und bereits saisonweise vor Ende des Übergangszeitraums eine entsprechende Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt hätten, auch wenn dies zum Stichtag aufgrund der besonderen Ausnahmesituation im Zusammenhang mit der COVID‑19‑Pandemie nicht in dem Sinn möglich gewesen sei, wie es die vertragsschließenden Teile des Austrittsabkommens bei der Verhandlung desselben vor Augen gehabt hätten.

16 Nach Art. 7 Abs. 3 lit. a, b, c und d der Richtlinie 2004/38/EG behielten Grenzgänger zudem ihre Arbeitnehmereigenschaft im Arbeitsstaat dann, wenn sie beispielsweise wegen Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig seien oder mit einer Berufsausbildung begännen. Nach dem Leitfaden handle es sich gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (Hinweis auf EuGH [19.6.2014], Saint Prix, C‑507/12 ) um eine nicht erschöpfende Aufzählung der Umstände, unter denen die Arbeitnehmereigenschaft beibehalten werden könne. Im vorliegenden Fall seien die besonderen Umstände die Saisonalität seiner Tätigkeit, seine auf Österreich und den hier bestehenden Wintertourismus ausgerichtete Berufstätigkeit, seine fortlaufend vorgenommene einschlägige Ausbildung und die nur aufgrund der COVID‑19‑Pandemie eingetretene „Nichtfortsetzung“ seiner Arbeitstätigkeit zum Ende des Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020. Das Verwaltungsgericht hätte daher zur rechtlichen Beurteilung gelangen müssen, dass er seine Berufstätigkeit in Österreich als saisonal tätiger Skilehrer nie eingestellt und damit weiterhin eine wirtschaftliche Tätigkeit nach Art. 45 oder 49 AEUV in Österreich ausgeübt und seinen Status als Grenzgänger nie verloren habe.

17 Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung.

18 Die Revision erweist sich bereits im Hinblick auf den aufgezeigten Verfahrensmangel als zulässig. Sie ist auch begründet:

19 Vorweg ist festzuhalten, dass der Verfassungsgerichtshof mit dem vom Bundeskanzler am 21. März 2023 in BGBl. I Nr. 21/2023 kundgemachten Erkenntnis vom 9. März 2023, G 38/2023, u.a., die Wortfolge „Bescheide und“ in § 20 Abs. 4 AuslBG, BGBl. Nr. 218/1975, idF BGBl. I Nr. 72/2013, mit Ablauf des 31. März 2024 als verfassungswidrig aufgehoben und ausgesprochen hat, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten. Ferner sprach er nach Art. 140 Abs. 7 zweiter Satz B‑VG aus, dass die aufgehobene Bestimmung in den am 9. März 2023 beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist. Eine Ausdehnung auf die beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahren wurde nicht verfügt (vgl. demgegenüber VfGH 9.3.2023, G 295/2022, u.a.).

20 Der Revisionsfall ist daher kein Anlassfall und vom Verwaltungsgerichtshof noch auf Grund der alten Rechtslage zu entscheiden; eine neuerliche Anfechtung der erwähnten Wortfolge ist nicht zulässig (VwGH 14.10.2011, 2009/09/0256, mwN).

In der Sache:

21 Die Bestimmungen des die Beschäftigung von Ausländern im Bundesgebiet regelnden Ausländerbeschäftigungsgesetzes sind gemäß § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG nicht auf Ausländer anzuwenden, die aufgrund eines Rechtsakts der Europäischen Union Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen. Darüber hat die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice den Ausländern auf deren Antrag eine Bestätigung auszustellen (§ 3 Abs. 8 AuslBG).

22 Nach Art. 9 lit. b des zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits, nach der von letzterem am 29. März 2017 mitgeteilten Absicht aus der Europäischen Union und Euratom auszutreten, abgeschlossenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. C 384 I/01, vom 12. November 2019, (in der Folge kurz: Austrittsabkommen) ist Grenzgänger ein Unionsbürger oder britischer Staatsangehöriger, der in einem oder mehreren Staaten, in denen er nicht wohnt, eine wirtschaftliche Tätigkeit nach Art. 45 oder 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 326/49 vom 26. Oktober 2012, (AEUV) ausübt. Arbeitsstaat ist im Fall von britischen Staatsangehörigen ein Mitgliedstaat, in dem ein solcher vor Ende des Übergangszeitraums eine wirtschaftliche Tätigkeit als Grenzgänger ausgeübt hat und danach weiter ausübt (Art. 9 lit. d sublit. ii Austrittsabkommen).

23 Gemäß Art. 10 lit. d Austrittsabkommen gilt der mit „Rechte der Bürger“ überschriebene zweite Teil des Austrittsabkommens für britische Staatsangehörige, die ihr Recht als Grenzgänger in einem oder mehreren Mitgliedstaaten vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter ausüben.

24 Der Übergangszeitraum endete gemäß Art. 126 Austrittsabkommen am 31. Dezember 2020.

25 Nach Art. 24 Austrittsabkommen genießen abhängig beschäftigte Grenzgänger im Arbeitsstaat vorbehaltlich der in Art. 45 Abs. 3 und 4 AEUV vorgesehenen Beschränkungen u.a. die durch Art. 45 AEUV garantierten Rechte, wozu das Recht zählt, nach den für die Staatsangehörigen des Arbeitsstaats geltenden Vorschriften eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder auszuüben (lit. b leg. cit.).

26 Abhängig beschäftigte Grenzgänger behalten gemäß Art. 24 Abs. 3 Austrittsabkommen zudem die Rechte, die sie dort als Arbeitnehmer genossen haben, sofern auf sie eine der in Art. 7 Abs. 3 lit. a bis d der Richtlinie 2004/38/EG aufgeführten Bedingungen zutrifft, selbst wenn sie ihren Wohnsitz nicht in den Arbeitsstaat verlegen.

27 Nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG bleiben die Rechte erhalten, wenn die Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausgeübt wird und dieser wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist (lit. a), er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt (lit. b), er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten bleibt (lit. c), er eine Berufsausbildung beginnt, wobei die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft voraussetzt, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren (lit. d).

28 Nach Art. 26 Austrittsabkommen kann der Arbeitsstaat u.a. von britischen Staatsangehörigen, die nach diesem Titel Rechte als Grenzgänger haben, verlangen, dass sie ein Dokument beantragen, mit dem bescheinigt wird, dass sie nach diesem Titel solche Rechte haben und haben diese Anspruch darauf, dass ihnen ein solches Dokument ausgestellt wird.

29 Der Revisionswerber, ein britischer Staatsangehöriger, beruft sich zur Fortwirkung seiner Rechte, insbesondere des Rechts auf Freizügigkeit, als vormaliger Unionsbürger nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union zusammengefasst in erster Linie darauf, als Grenzgänger in Österreich unselbständig beschäftigt gewesen zu sein. Allenfalls sei er zum Ende des Übergangszeitraums durch die COVID‑19‑Pandemie an einer Ausübung seiner Beschäftigung gehindert gewesen und habe aus diesem Grund seine Rechte behalten.

30 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer Verhandlung absehen kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen. Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Bei einem rechtswidrigen Unterlassen einer nach Art. 6 EMRK erforderlichen mündlichen Verhandlung ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. VwGH 24.6.2021, Ra 2021/09/0008, mwN). Diese zu Art. 6 EMRK entwickelte Rechtsprechung findet in gleicher Weise für das auf Art. 47 GRC gestützte Recht auf mündliche Verhandlung Anwendung (vgl. dazu u.a. VwGH 26.2.2021, Ra 2020/09/0046; 24.3.2020, Ra 2019/09/0119; mwN).

31 Der Verwaltungsgerichtshof judiziert zudem in ständiger Rechtsprechung, dass es sich bei der Zulassung von Ausländern zu einer Beschäftigung (etwa) als Schlüsselkraft um ein „civil right“ im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt (siehe etwa ausführlich VwGH 20.10.2015, Ra 2015/09/0051, unter Hinweis auf EGMR 27.7.2006, Jurisic und Collegium Mehrerau gegen Österreich, Nr. 62539/00, sowie CoorplanJenni GmbH und Hascic gegen Österreich, Nr. 10523/02; vgl. ferner etwa VwGH 20.3.2019, Ra 2018/09/0136; 22.2.2018, Ra 2017/09/0006, zur Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung). Nichts anderes gilt unter diesem Gesichtspunkt für die Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG (siehe etwa VwGH 25.9.2019, Ra 2018/09/0211, zu einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG für einen Unionsbürger).

32 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Entfall der nach Art. 6 Abs. 1 MRK grundsätzlich gebotenen öffentlichen Verhandlung dann als zulässig an, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine Ausnahme davon rechtfertigen. Der Gerichtshof hat das Vorliegen solcher außergewöhnlicher Umstände etwa dann angenommen, wenn das Verfahren ausschließlich rechtliche, oder hoch technische Fragen betrifft; er verwies in diesem Zusammenhang aber auch auf das Bedürfnis der nationalen Behörden nach zweckmäßiger und wirtschaftlicher Vorgangsweise, das angesichts der sonstigen Umstände des Falles zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtige (ausführlich VwGH 29.1.2020, Ra 2019/09/0141, mit Hinweis auf VwGH 21.4.2015, Ra 2015/09/0009; 12.12.2008, 2005/12/0183, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR). Entsprechendes gilt aus dem Grunde des Art. 52 Abs. 3 erster Satz GRC für die Rechte des Revisionswerbers gemäß Art. 47 Abs. 2 GRC (vgl. zum Ganzen auch VwGH 18.2.2015, 2015/12/0001, mwN).

33 Die Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung im Sinn der oben dargestellten Rechtslage und Rechtsprechung lagen im gegenständlichen Fall nun schon deshalb nicht vor, weil das Bundesverwaltungsgericht ‑ abweichend vom Beschwerdevorbringen ‑ erstmalig einen vom Revisionswerber in Österreich begründeten Nebenwohnsitz annahm; die Beschwerdevorentscheidung stellte dazu bloß den Abschluss eines Mietvertrags fest.

34 Zudem dient die Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht nur der Klärung des Sachverhalts sondern auch der Erörterung von Rechtsfragen (VwGH 12.9.2017, Ra 2017/09/0023, u.a. mwN).

35 Gerade bei zu lösenden komplexen Rechtsfragen wie im vorliegenden Fall, zu welchen weder auf einschlägige höchstgerichtliche Judikatur zurückgegriffen werden konnte und auch der Revisionswerber in seiner Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht ‑ wie dieses selbst im angefochtenen Erkenntnis festhielt ‑ rechtliches Vorbringen erstattete, wäre die Erörterung auch der Rechtslage und allenfalls zur Auslegung der Bestimmungen des Austrittsabkommens herangezogener Erläuterungen in einer mündlichen Verhandlung angezeigt gewesen.

36 Schließlich ist festzuhalten, dass auch § 3 des Verwaltungsgerichtlichen COVID‑19‑Begleitgesetzes nichts an den einfachgesetzlich in den §§ 24, 25, 44 und 48 VwGVG verankerten allgemeinen Regelungen über die Durchführung mündlicher Verhandlungen änderte (vgl. hiezu näher VwGH 17.5.2022, Ra 2020/06/0139).

37 Das angefochtene Erkenntnis war daher bereits gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

38 Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. April 2023

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