Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §22a Abs1
BFA-VG 2014 §22a Abs3
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210361.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Nigerias, beantragte nach seiner illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 14. Juli 2015 die Gewährung von internationalem Schutz. Diesen Antrag wies zuletzt das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Beschwerdeweg mit Erkenntnis vom 20. Juli 2019 vollinhaltlich ab. Es erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei.
2 Für den Revisionswerber, der über keine Reisepapiere verfügte, konnte in der Folge kein Heimreisezertifikat erlangt werden. Vielmehr stellte die Botschaft der Republik Nigeria am 19. September 2019 für ihn ein Empfehlungsschreiben aus und ersuchte unter Hinweis auf das Maß der in Österreich bereits erreichten Integration um seine Unterstützung.
3 Mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem Mandatsbescheid vom 25. Mai 2020 trug das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber gemäß § 57 Abs. 1 FPG auf, bis zu seiner Ausreise durchgängig Unterkunft in einer näher bezeichneten Betreuungsstelle in Tirol/Fieberbrunn zu nehmen. Dieser Verpflichtung habe er binnen drei Tagen nachzukommen.
4 Der Revisionswerber entfernte sich aus dieser Betreuungseinrichtung, in die er am 8. Juni 2020 überstellt worden war, am 14. Juni 2020 und hielt sich bis zum 29. Juni 2020 im Verborgenen auf.
5 Am 16. Juni 2020 erließ das BFA deshalb einen Festnahmeauftrag nach § 34 Abs. 3 Z 1 BFA‑VG. Dieser wurde am 29. Juni 2020 nach Aufgriff des Revisionswerbers vollzogen.
Die mit Mandatsbescheid vom 25. Mai 2020 erteilte Wohnsitzauflage wurde mit Bescheid des BFA vom 3. Juli 2020 gemäß § 68 Abs. 2 AVG aufgehoben.
6 Nach seiner Einvernahme (am 1. Juli 2020) ordnete das BFA mit (am Tag darauf in Vollzug gesetztem) Mandatsbescheid vom 1. Juli 2020 gegen den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft (insbesondere) zum Zweck der Sicherung der Abschiebung an.
7 Begründend verwies das BFA zur angenommenen Fluchtgefahr insbesondere darauf, dass der Revisionswerber der gegen ihn ergangenen Rückkehrentscheidung nicht Folge geleistet habe, im Bundesgebiet nicht beruflich, sozial oder familiär verankert und nach der Entfernung aus der Betreuungsstelle Fieberbrunn an einem der Behörde unbekannten Ort untergetaucht sei. Es bejahte daher das Vorliegen von Fluchtgefahr nach den Kriterien des § 76 Abs. 3 Z 1, 1a, 3, 8 und 9 FPG. Dieser Gefahr könne durch die Anwendung eines gelinderen Mittels, etwa der Anordnung einer Unterkunftnahme oder einer periodischen Meldeverpflichtung, nicht ausreichend begegnet werden. Ausführungen zur (zeitnahen) Realisierbarkeit der Abschiebung (nach Erlangung eines Heimreisezertifikates) fehlten.
8 Gegen seine Festnahme, die Anhaltung vom 29. Juni bis zum 1. Juli 2020 sowie gegen den Schubhaftbescheid und die Anhaltung in Schubhaft erhob der Revisionswerber mit Schriftsatz vom 15. Juli 2020, in dem er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte, Beschwerde. Darin machte er im Ergebnis vor allem geltend, dass auch nach seiner zwischenzeitigen Identifizierung durch den Botschafter Nigerias weder mit der Ausstellung eines Heimreisezertifikates noch ‑ unter Berücksichtigung der Folgen der Covid‑19‑Pandemie ‑ mit der zeitnahen Möglichkeit seiner Abschiebung zu rechnen sei. Nigeria habe unter Berücksichtigung der Pandemie den Flugverkehr eingeschränkt bzw. „zeitweise gänzlich unterbunden“. Die Wiederaufnahme internationaler Flüge sei nicht absehbar. Demzufolge erwiesen sich auch die Anordnung von Schubhaft und die zu ihrer Vorbereitung erfolgte Festnahme als nicht erforderlich. Auch sei das rund zweitägige Zuwarten zwischen Festnahme und erstmaliger Einvernahme deutlich zu lange und führe zur Rechtswidrigkeit der Anhaltung.
9 Mit dem angefochtenen ‑ ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung erlassenen ‑ Erkenntnis vom 22. Juli 2020 wies das BVwG die Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 BFA‑VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG als unbegründet ab. Es stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA‑VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG fest, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und traf einen diesem Ergebnis entsprechenden Kostenausspruch. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG stellte das BVwG fest, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
10 Begründend verwies das BVwG auf einen Bericht des BFA vom 16. Juli 2020, wonach der Revisionswerber an diesem Tag „der nigerianischen Delegation vorgeführt“ worden sei, wobei seine Identität festgestellt und die Ausstellung eines Heimreisezertifikates zugesagt worden sei. In der Folge habe das BFA darüber informiert, dass eine Flugbuchung veranlasst und der [nicht eingehaltene] Abschiebetermin mit 1. August 2020 avisiert worden sei. Eine Abschiebung innerhalb der höchstzulässigen Schubhaftdauer erscheine somit möglich.
Der Revisionswerber verfüge in Österreich über keine sozialen Bindungen und weise keine besonderen Integrationsmerkmale auf. Auch habe er keinen gesicherten Wohnsitz, sei nie einer legalen Beschäftigung nachgegangen und verfüge über keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Existenzsicherung, sei also nicht selbsterhaltungsfähig. Er sei (schon aufgrund des Untertauchens) nicht vertrauenswürdig und (wiederholten eigenen Erklärungen zufolge) nicht ausreisewillig. Eine nennenswerte soziale Verankerung in Österreich habe der Revisionswerber zwar vorgebracht, eine solche habe aber nicht nachgewiesen werden können.
Anhaltspunkte dafür, dass auf Grund der Covid‑19‑Pandemie innerhalb der Höchstdauer der Schubhaft keine Abschiebung möglich wäre, seien nicht hervorgekommen. Dabei sei festzuhalten, dass eine Abschiebung mittels Charterflugs nicht die Wiederaufnahme des Linienflugverkehrs voraussetze.
Aufgrund dieser Überlegungen sei das BFA im Hinblick darauf, dass sich der Revisionswerber der Wohnsitzauflage entzogen und im Verborgenen aufgehalten habe, zu Recht vom Vorliegen erheblicher Fluchtgefahr ausgegangen. Auch komme den persönlichen Interessen des Revisionswerbers ein geringerer Stellenwert zu als dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung, sodass die Schubhaft auch das Kriterium der Verhältnismäßigkeit erfülle. Die Anwendung eines gelinderen Mittels könnte den Zweck der Schubhaft nicht abdecken.
Am Zutreffen dieser Überlegungen hätte sich bis zur Entscheidung des BVwG nichts geändert, sodass gemäß § 22a Abs. 3 BFA‑VG festzustellen sei, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen (weiter) vorlägen.
Die Abhaltung der beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben können, weil der Sachverhalt bereits aufgrund der Aktenlage und des Inhaltes der Beschwerde geklärt sei; Widersprüche in Bezug auf maßgebliche Sachverhaltselemente seien nicht vorgelegen.
11 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 24. November 2020, E 2779/2020, ablehnte.
12 Über die parallel dazu erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen das BFA eine Revisionsbeantwortung erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13 Die Revision erweist sich ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG ‑ aus nachstehenden Gründen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als zulässig und auch als berechtigt.
14 Der Revisionswerber weist zutreffend darauf hin, dass zur Begründung der Plausibilität der zeitnahen Möglichkeit einer Abschiebung neues Vorbringen des BFA unter Bezug auf eine am 16. Juli 2020 (also nach Erhebung der Schubhaftbeschwerde) abgegebene Zusage der Ausstellung eines Heimreisezertifikates durch den Botschafter Nigerias Berücksichtigung gefunden hat. Diese wäre, zumal sie nicht (aktenkundig und schriftlich) vorgelegt wurde, im Rahmen der beantragten Beschwerdeverhandlung mit dem Revisionswerber zu erörtern gewesen. Dasselbe gilt für die in der Beschwerde (laut Rn. 8) angesprochenen Fragen zur strittigen Möglichkeit, eine Flugabschiebung zeitnah zu organisieren.
15 Weiters macht der Revisionswerber mit Recht geltend, dass sich das BVwG mit seiner ebenfalls in Beschwerde gezogenen Festnahme und der nachfolgenden Anhaltung ‑ wenngleich (will man dem BVwG keine bloße Teilerledigung der Beschwerde unterstellen) im angefochtenen Erkenntnis spruchgemäß „miterledigt“ ‑ in der Begründung des Erkenntnisses nicht näher auseinandergesetzt hat. Das steht einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof entgegen und begründet daher insoweit ebenfalls Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG im gesamten Umfang aufzuheben.
17 Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG unterbleiben.
18 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 11. Mai 2021
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