OGH 8Ob36/76

OGH8Ob36/767.4.1976

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Hager als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fedra, Dr. Benisch, Dr. Thoma und Dr. Kralik als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* S*, Pensionist in *, vertreten durch Dr. Harald Scala, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagten Parteien 1.) Z* Versicherungsgesellschaft, Landesdirektion für *, 2.) F*, Malermeister in *, beide vertreten durch Dr. Erich Aigner, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen restlicher S 4.775,70 samt Anhang infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Berufungsgerichtes vom 3. Juni 1975, GZ. 32 R 221/75‑15, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Salzburg vom 20. Dezember 1974, GZ. 13 C 460/74-10, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1976:0080OB00036.76.0407.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Beklagten sind zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger die mit S 1.122,43 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die Barauslagen von S 96,‑‑ und die Umsatzsteuer von S 76,03) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen

 

Entscheidungsgründe:

Am 5. 10. 1973 ereignete sich gegen 14.45 Uhr auf der Gemeindestraße zwischen dem Schwimmbad B* und dem Ortsteil L* im Einmündungsbereich einer nicht benannten Querstraße ein Verkehrsunfall, an dem der Personenkraftwagen, Marke Opel-Kadett, des Klägers, gelenkt von dessen Sohn A* S*, und der Personenkraftwagen, Marke Volvo, des Zweitbeklagten beteiligt waren. Die Erstbeklagte war Haftpflichtversicherer des vom Zweitbeklagten beim Unfallsereignis gelenkten Volvo.

Der Kläger begehrte von den Beklagten zur ungeteilten Hand die Zahlung von S 10.551,40 s.A. (S 9.551,40 Reparaturkosten, S 1.000,‑‑ Wertminderung). Den Zweitbeklagten treffe das Alleinverschulden, weil er auf der Gemeindestraße zu schnell und zu weit links gefahren sei, so daß er auf den aus der Querstraße gekommenen, angehaltenen Opel-Kadett des Klägers angefahren sei.

Die Beklagten anerkannten ein 50 %iges Mitverschulden des Zweitbeklagten und wendeten ein gleichteiliges Mitverschulden des A* S* ein, weil dieser als Linkskommender den Vorrang des Zweitbeklagten verletzt habe.

Das Erstgericht hat dem Klagebegehren – ausgehend vom Alleinverschulden des Zweitbeklagten – stattgegeben. Das Ersturteil blieb hinsichtlich des Teilzuspruches von S 4.775,70 samt Anhang unangefochten.

Das Berufungsgericht hat der hinsichtlich des Teilbetrages von S 5.775,70 erhobenen Berufung der Beklagten teilweise Folge gegeben: Es bestätigte – ausgehend vom Alleinverschulden des Zweitbeklagten – das Ersturteil im Teilzuspruch von S 4.775,70 und änderte es hinsichtlich des Betrages von S 1.000,‑‑ (Wertminderung) dahin ab, daß es dieses Teilbegehren – unangefochten – abwies.

Die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz wird von den Beklagten insoweit mit Revision angefochten, als das Berufungsgericht den Teilzuspruch des Erstgerichtes von S 4.775,70 samt Anhang bestätigte. Sie machen die Revisionsgründe des § 503 Z. 2 und 4 ZPO mit dem Antrag geltend, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Abweisung von weiteren S 4.775,70 abzuändern oder im Umfang der Anfechtung aufzuheben.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung der Revision keine Folge zu geben.

Die Ausführungen in der Revisionsbeantwortung geben Anlaß festzuhalten, daß die Behauptung des Klägers, die Erstbeklagte habe nach der Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz eine Teilzahlung entrichtet, als dem Neuerungsverbot widersprechend unzulässig und unbeachtlich ist, so daß auf die vom Kläger hieraus abgeleiteten Folgerungen nicht einzugehen ist.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht gerechtfertigt.

Im Revisionsverfahren ist lediglich umstritten geblieben, ob den Lenker des PKWs des Klägers ein Mitverschulden im Ausmaße von 50 % trifft oder nicht.

Die Vorinstanzen haben ihrer Entscheidung im wesentlichen folgenden Sachverhalt zu Grunde gelegt: Im Bereiche der im Gemeindegebiet von B* gelegenen Unfallstelle ist die Gemeindestraße, die der Zweitbeklagte befahren hat, asphaltiert. Sie ist im Bereich der – in Fahrtrichtung des Zweitbeklagten gesehen – von links einmündenden Querstraße, aus welcher der PKW des Klägers kam, etwa 5 m breit, wobei sie in einer Linkskurve verläuft. Auch die Querstraße ist asphaltiert, doch waren beide Straßen zum Zeitpunkt des Unfalles teilweise mit Schotter von Baustellen bedeckt, waren aber an sich voll befahrbar. Der Zweitbeklagte hätte ohne weiteres den rechten Fahrbahnrand der Gemeindestraße befahren können. Zum Unfallszeitpunkt herrschte schönes, trockenes Wetter. Beide Straßen sind in beiden Richtungen befahrbar; es besteht keine Geschwindigkeitsbegrenzung.

Der Zweitbeklagte, der ortskundig ist, näherte sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von ca. 36 km/h und einem Seitenabstand von ca. 1 m bis 1,30 m vom linken Fahrbahnrand. Kurz vor dem Unfall bemerkte er, daß sich von links in die Gemeindestraße herein ein Fahrzeug bewegte, nämlich der von A* S* gelenkte Opel-Kadett des Klägers. Als sich der Opel-Kadett ca. 1 m in der Gemeindestraße befand, ereignete sich der Zusammenstoß mit dem vom Zweitbeklagten gelenkten Kraftwagen. Der Zweitbeklagte kam mit seinem Fahrzeug ca. 4,5 m jenseits des Kollisionspunktes zum Stillstand.

A* S* wollte aus der Querstraße nach rechts in die Gemeindestraße einbiegen. Dies war nicht leicht, weil damals eine steile Böschung die Sicht in diese behinderte. Um vom Lenkersitz eines Opel-Kadett Sicht nach rechts in die Gemeindestraße zu haben, muß die Fahrzeugspitze ca. 1 m in die Gemeindestraße ragen. A* S* fuhr damals langsam auf der abfallenden Straße und lenkte sein Fahrzeug so, daß er möglichst wenig die andere Straße verlegte, bevor er Sicht in diese erhalten konnte. Bei diesem Manöver hatte er den Fuß auf dem Bremspedal. Er konnte dadurch im Zeitpunkt des Anpralles an den PKW des Zweitbeklagten anhalten. In der Unfallsposition ragte sein Fahrzeug ca. 1 m in die Gemeindestraße hinein. Der Kollisionswinkel hat ca. 55° betragen. Der vom Zweitbeklagten gelenkte Volvo 122 ist 4,64 m lang und 1,71 m breit. Der von A* S* gelenkte Opel-Kadett hat eine Länge von 4,18 m und eine Breite von 1,57 m, bei einem Wendekreis von 10,6 m. Bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h werden in der Sekunde 8,33 m zurückgelegt. A* S* hatte sich mit einer Geschwindigkeit von „über 4 km/h“ „abbremsend“ der Unfallstelle genähert, als er in den Sichtbereich des Zweitbeklagten gelangte. Hätte der Zweitbeklagte mit seinem Fahrzeug zum rechten Straßenrand einen Abstand von 50 cm eingehalten, so wäre sein Fahrzeug vom linken Straßenrand mindestens 2,79 m entfernt gewesen und wäre er im Zeitpunkt der Kollision am anderen Fahrzeug mit einem Abstand von 1,70 m vorbeigefahren.

Hievon ausgehend lasteten beide Vorinstanzen dem Zweitbeklagten zum Alleinverschulden an, daß er schwerwiegend gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen habe. Wäre er nämlich in Befolgung der Bestimmung des § 7 Abs. 2 StVO am rechten Fahrbahnrand gefahren, so wäre er durch den Opel-Kadett, der nur ca. 1 m in die 5 m breite Fahrbahn der Gemeindestraße hineingeragt habe, überhaupt nicht behindert worden. Wohl sei dem Zweitbeklagten der Rechtsvorrang zugekommen, doch habe der Lenker des Opel-Kadett diesen nicht verletzt, weil er unter Einhaltung einer geringen Geschwindigkeit nur so weit in die Gemeindestraße eingefahren sei als notwendig war, um Sicht zu gewinnen.

Demgegenüber vertritt die Revision weiterhin die Auffassung, daß den Lenker des Opel-Kadett ein Mitverschulden im Ausmaß von 50 % treffe, weil er den Vorrang des Zweitbeklagten mißachtet habe.

Die unter dem Gesichtspunkt einer vermeintlichen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens behauptete Unvereinbarkeit der Feststellungen über den Annäherungsweg des Volvo und die Anhaltestelle des Opel-Kadett liegt nicht vor. Es ist ohne weiters denkbar, daß sich der Volvo mit einem linken Seitenabstand im Bereich von ca. 1 m bis 1,30 m (kurvenschneidend) der Unfallstelle näherte und bei Erreichen der festgestellten Untergrenze seines linken Seitenabstandes den ca 1 m in die Gemeindestraße hineinragenden Opel-Kadett des Klägers streifte. Insofern die Revision die Richtigkeit der festgestellten Anstoßstelle in Zweifel ziehen zu können vermeint, erschöpft sie sich in einem unzulässigen Angriff auf die Beweiswürdigung der Vorinstanzen.

Ausgehend von den vorinstanzlichen Feststellungen ist auch die Rechtsrüge nicht berechtigt.

Der Revision ist zuzugeben, daß dem Zweitbeklagten der Rechtsvorrang zukam, den er auch durch sein verkehrswidriges Verhalten nicht verwirkte , und daß sich der Vorrang grundsätzlich auf die gesamte bevorrangte Fahrbahn erstreckt. Gleichwohl kann dem Lenker des Opel-Kadett ein zur Anspruchskürzung führendes Mitverschulden aus folgenden Erwägungen nicht angelastet werden:

Es ist davon auszugehen, daß dem Zweitbeklagten ein schwerwiegender Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot anzulasten ist. Insofern die Beklagten dem Lenker des Opel‑PKW ein haftungsbegründendes Mitverschulden anlasten wollen, trifft sie hiefür die Behauptungs- und Beweislast. Allfällige Unklarheiten im erhobenen Sachverhalt gehen in diesem Belang zu Lasten dessen, der das Verschulden des gegnerischen Lenkers geltend macht (vgl. 8 Ob 2/76 ua). Das von der Revision aus dem Zusammenhalt der Feststellungen herausgelöste Wort „über 4 km/h“ ist keine ausreichende Grundlage für die Annahme eines Mitverschuldens unter dem Gesichtspunkt einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Aus den Feststellungen der Vorinstanzen folgt, daß der Lenker des Opel-Kadett mit einer Geschwindigkeit von „über 4 km/h“ in die Gemeindestraße „abbremsend“ mit dem Fuß am Bremspedal dergestalt einfuhr, daß er bei Erreichung des Punktes der ersten Sicht – und somit des Zusammenstoßpunktes – sein Fahrzeug zum Stillstand bringen konnte. Somit entspricht diese Fahrweise dem von der Rechtsprechung geforderten Vortasten in die bevorrangte Fahrbahn.

Der Revision ist zuzugeben, daß der Lenker des Opel-Kadett gegenüber dem Zweitbeklagten wartepflichtig war. Der Inhalt der Wartepflicht zerfällt in eine zeitliche Komponente, die besagt, wann der Wartepflichtige weiter fahren darf, und in eine örtliche Komponente, die besagt, bis zu welcher Stelle der Wartepflichtige vorfahren darf, um den Zeitpunkt des endgültigen Weiterfahrens abzuwarten (Anmerkung 68 zu § 19 StVO in Dittrich-Veit-Schuchlenz). Hiefür müssen die örtlichen Verhältnisse, insbesondere die Sichtverhältnisse in Betracht gezogen werden (2 Ob 250/66 ua). Um eine ausreichende Sicht auf die Fahrbahn der Gemeindestraße zwecks Wahrung des Vorranges eines von rechts kommenden Verkehrsteilnehmers zu bekommen, blieb dem Lenker des PKWs des Klägers gar nichts anderes übrig, als sich entsprechend weit in die Fahrbahn vorzutasten. Anderenfalls wäre das durchaus zulässige Rechtsabbiegen des Klägers überhaupt nicht zu bewerkstelligen gewesen. Der Kläger war also berechtigt, bis zur Gewinnung der notwendigen Sicht in die Gemeindestraße langsam und bremsbereit einzufahren (vgl. 2 Ob 52/73). Die Richtigkeit dieser Überlegungen ergibt sich auch aus dem Zusammenhalt der Bestimmungen des § 52 Nr. 11 und 19 Abs. 4 StVO, wonach bei dem Verkehrszeichen „Halt vor Kreuzung“ der Wartepflichtige, wenn eine Querlinie nicht sichtbar oder nicht vorhanden ist, an der Stelle anzuhalten hat, von der aus gute Übersicht besteht. Hieraus folgt, daß der Benachrangte an einer unübersichtlichen Kreuzung berechtigt ist, sich vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hineinzutasten, bis er die erforderliche Übersicht hat. Vergleichsweise sei darauf hingewiesen, daß dieser auch von der Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte Grundsatz (vgl. Jagusch, Straßenverkehrsrecht21 S. 128 Anm. 6 b und S. 131 Anm. 6 f) nunmehr im § 8 Abs. 2 der deutschen StVO 1970 seinen Niederschlag gefunden hat.

Dem Lenker des PKWs des Klägers kann daher ein haftungsbegründendes Mitverschulden nicht angelastet werden. Erwägungen über die vom Fahrzeug des Klägers ausgehenden Betriebsunfälle können dahingestellt bleiben, da der im Verhältnis der Beteiligten maßgebende § 11 EKHG als Regel eine Rangordnung der für die Beurteilung der gegenseitigen Ersatzpflicht maßgebenden Umstände aufstellt, wonach es in erster Linie auf das Verschulden ankommt (ZVR 1974/227 ua, zuletzt 8 Ob 233/75). Die Vorinstanzen haben daher eine Kürzung der Ansprüche des Klägers unter dem Gesichtspunkt seiner Ausgleichspflicht mit Recht abgelehnt.

Aus den angeführten Erwägungen war der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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