OGH 6Ob47/24s

OGH6Ob47/24s26.3.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S* GmbH, *, vertreten durch Becker Günther Polster Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei V* AG, *, vertreten durch Weber Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien,wegen Nichtigkeit und Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen,über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des OberlandesgerichtsWien als Berufungsgericht vom 29. November 2023, GZ 2 R 70/23p-26, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 20. Februar 2023, GZ 27 Cg 34/22p-13, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0060OB00047.24S.0326.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Unternehmens-, Gesellschafts- und Wertpapierrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.639,40 EUR (darin enthalten 439,90 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin ist Aktionärin der beklagten Aktiengesellschaft.

[2] Bei der Beklagten fanden vor dem 6. 4. 2022 mehrere Vorstandssitzungen statt, in denen die Frage thematisiert wurde, ob die nächste Hauptversammlung in Präsenz oder virtuell stattfinden sollte. Der Vorstand wollte sich wegen der schwierigen Vorhersehbarkeit der damaligen pandemischen Situation solange wie möglich beide Möglichkeiten offen halten. Am 6. 4. 2022 fand eine Vorstandsbesprechung statt, die vorwiegend der Entscheidung über die Art der Abhaltung der Hauptversammlung diente. Sämtliche Vorstandsmitglieder der Beklagten waren anwesend. Sie fassten den einstimmigen Beschluss, die Hauptversammlung am 20. 5. 2022 virtuell abzuhalten.

[3] Die Einberufungsbekanntmachung zur Hauptversammlung enthielt unter anderem die Angabe des Datums und der Beginnzeit der Hauptversammlung, die Ortsangabe „in Wien“, die Mitteilung, dass die Hauptversammlung virtuell stattfinde, die Aktionäre mit Ausnahme der besonderen Stimmrechtsvertreter gemäß § 3 Abs 4 COVID-19-GesV nicht physisch anwesend sein dürften, der Aufsichtsratsvorsitzende und sein Stellvertreter sowie die Mitglieder des Vorstands physisch anwesend sein würden und eine Übertragung im Internet stattfinde, weiters Angaben zu den technischen Voraussetzungen der Teilnahme auf Seiten der Aktionäre und zu den Modalitäten der Ausübung des Stimm-, Rede-, Antrags- und Widerspruchsrechts sowie die Tagesordnung.

[4] Am 20. 5. 2022 um 11:00 Uhr begann die virtuelle Hauptversammlung der Beklagten, wobei sämtliche Vorstandsmitglieder, der Aufsichtsratsvorsitzende, sein erster Stellvertreter sowie ein weiteres Aufsichtsratsmitglied am Versammlungsort anwesend waren. Die Generaldebatte wurde um 12:15 Uhr eröffnet. Nach Verlesung und Beantwortung von eingelangten Aktionärsfragen ersuchte der Aufsichtsratsvorsitzende, weitere Fragen und Anträge der Aktionäre jetzt zu übermitteln, und kündigte an, dass die bis 13:15 Uhr einlangenden Fragen beantwortet würden. Der Geschäftsführer der Klägerin sandte um 13:07 Uhr an seinen vor Ort anwesenden Stimmrechtsvertreter neun an die Beklagte gerichtete Fragen, die sich direkt oder indirekt auf die virtuelle Abhaltung der Hauptversammlung bezogen. Die Fragen der Klägerin wurden – nach einer Unterbrechung der Hauptversammlung zwecks Vorbereitung der Beantwortung – von der Vorstandsvorsitzenden um 13:49 Uhr in einer von den Anwesenden deutlich wahrnehmbaren Weise beantwortet, wobei nicht feststellbar war, ob sie für den Geschäftsführer der Klägerin aufgrund von Übertragungsstörungen nur undeutlich wahrnehmbar waren. Danach wurde die Generaldebatte geschlossen. Hätte der Geschäftsführer der Klägerin nach Schluss der Generaldebatte weitere Fragen übermittelt, wären sie, sofern sie vom Vorsitzenden als grundsätzlich zulässig erachtet worden wären, von Vertretern der Beklagten beantwortet worden.

[5] Die Klägerin erhob durch ihren Stimmrechtsvertreter Widerspruch zu Protokoll gegen die gesamte Tagesordnung, gegen jeden in der Hauptversammlung gefassten Beschluss und gegen die Einberufung zur Hauptversammlung. Der Vorsitzende schloss die Hauptversammlung um 14:11 Uhr.

[6] Die Klägerinbegehrt die Feststellung der Nichtigkeit aller in der Hauptversammlung der Beklagten am 20. 5. 2022 gefassten Beschlüsse, hilfsweise sämtliche Beschlüsse für nichtig zu erklären. Soweit für das Revisionsverfahren relevant, brachte sie vor, die Hauptversammlung sei rechtswidrig als virtuelle Versammlung einberufen und abgehalten worden. Der Einberufung sei daher ein rechtswidriger Vorstandsbeschluss zugrunde gelegen. Das komme einem Einberufungsmangel iSd § 199 Abs 1 Z 1 AktG gleich. Hilfsweise machte sie die Einberufung und Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung als Anfechtungsgrund geltend, weil die Versammlung iSd § 196 Abs 1 Z 2 lit b AktG nicht gehörig einberufen worden sei. Bei virtuellen Hauptversammlungen komme es zu einer Einschränkung des (persönlichen) Teilnahmerechts, des Auskunfts-, Stimm-, Antrags- und Widerspruchsrechts der Aktionäre. Die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung sei unzulässig gewesen, weil im April und Mai 2022 die Fallzahlen der COVID-19-Infektionen rückläufig gewesen und für andere Zusammenkünfte als jene von Organen juristischer Personen mit Wirkung ab 16. 2. 2022 jegliche Beschränkungen aufgehoben worden seien. Die vom Vorstand der Beklagten nach § 2 Abs 3 COVID-19-GesV vorgenommene Interessenabwägung sei ungenügend gewesen. Die Regelung der Interessenabwägung in der COVID-19-GesV sei gesetz-, die anzuwendenden Bestimmungen des COVID‑19-GesG seien verfassungswidrig (gewesen). „Vorsorglich“ werde die wirksame Fassung eines Vorstandsbeschlusses über die Einberufung der Hauptversammlung bestritten. Ein allfälliger Vorstandsbeschluss habe zudem Beginnzeit und Tagesordnung der Versammlung nicht umfasst. Die Vorstandsvorsitzende der Beklagten habe die in der Hauptversammlung von der Klägerin durch ihren Stimmrechtsvertreter gestellten Fragen zu kurz und akustisch teilweise unverständlich beantwortet. Die Klägerin habe dazu keine Nachfragen stellen können.

[7] Die Beklagte bestritt das Vorbringen. Die virtuelle Hauptversammlung sei vom Vorstand im Einklang mit dem COVID-19-GesG und der COVID-19-GesV beschlossen und abgehalten worden. Das Auskunfts- und Rederecht der Aktionäre sei nicht beeinträchtigt gewesen. Die Klägerin habe Fragen übermittelt, welche beantwortet worden seien. Dass Fragen – und Nachfragen – nur innerhalb des mehrfach bekannt gegebenen Zeitraums möglich gewesen seien, entspreche § 3 Abs 1 zweiter Satz COVID-19-GesV. Ein Nichtigkeitsgrund liege nicht vor, der Zweck des § 199 Abs 1 Z 1 AktG, dass alle Aktionäre Kenntnis von der Hauptversammlung hätten und daran teilnehmen könnten, sei nicht gefährdet gewesen. Selbst wenn man in der Einberufung und Abhaltung der virtuellen Hauptversammlung eine Gesetzesverletzung sehen wollte, mangelte es den hilfsweise geltend gemachten Anfechtungsgründen an Relevanz, weil die Klägerin ihre Fragen gestellt habe und diese beantwortet worden seien.

[8] DasErstgericht wies Haupt- und Eventualbegehren ab.

[9] Der von der Klägerin gemäß Art 139 Abs 1 Z 4, 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG angerufene Verfassungsgerichtshof wies den Gesetzes- und Verordnungsprüfungsantrag der Klägerin zurück. Er sprach aus, der Antrag lasse die behauptete Verfassungswidrigkeit von näher bezeichneten Bestimmungen des COVID-19-GesG und die behauptete Gesetzwidrigkeit von Teilen der COVID-19-GesV als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass er keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es ließ die Revision zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der in § 2 Abs 3  COVID-19-GesV normierte Interessenabwägung vorliege.

[11] Das Berufungsgerichtging von einem die Einberufung der Hauptversammlung deckenden, gesetzeskonformen Vorstandsbeschluss aus. Die Klägerin habe im Verfahren erster Instanz nur das Fehlen eines Vorstandsbeschlusses über die Beginnzeit und die Tagesordnung der Hauptversammlung beanstandet. Dadurch, dass alle Vorstandsmitglieder der Beklagten zu Beginn der Hauptversammlung um 11:00 Uhr anwesend gewesen seien, sei spätestens zu diesem Zeitpunkt ein konkludenter Vorstandsbeschluss über die Beginnzeit vorgelegen. Die Aktionärsrechte seien nicht beeinträchtigt worden, es habe auch keine Gefahr des „Vorbeisteuerns“ der Hauptversammlung an einer Aktionärsgruppe bestanden. Das Berufungsvorbringen, es fehle ein Vorstandsbeschluss über den Ort der Durchführung, sei eine unzulässige Neuerung. Die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung sei nach den Bestimmungen des COVID-19-GesG iVm der COVID‑19‑GesV zulässig gewesen, die von der Klägerin behauptete Verfassungswidrigkeit habe der Verfassungsgerichtshof nicht erkannt. Die Abwägung der Interessen der Gesellschaft und jener der Teilnehmer gemäß § 2 Abs 3 COVID-19-GesV habe der Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen auszuüben. Die festgestellten Erwägungen des Vorstands, dass die Sieben-Tages-Inzidenzen und die Zahl der Neuinfektionen noch hoch seien, die offiziellen Vorhersagen sich historisch nicht immer als belastbar erwiesen hätten, dass eine kurzfristige Änderung der Art der Abhaltung und eine Verschiebung der Hauptversammlung vermieden werden sollten und dass die Beklagte als einer der größten inländischen Krankenversicherer einen allfälligen „Superspereader-Event“ vermeiden wollte, dass die zum Zeitpunkt der Hauptversammlung mit COVID-19 infizierten Aktionäre an einer Versammlung in Präsenz nicht teilnehmen könnten sowie dass bei Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung auch betagten (und daher besonders vulnerablen) Personen die Teilnahme ermöglicht werde, sodass insgesamt dem Gesundheitsschutz und der Vermeidung einer Infektionsgefahr eine besondere Priorität zukommen sollte, stünden im Einklang mit § 2 Abs 3 COVID-19-GesV.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin ist zur Klarstellung der Erfordernisse des der Einberufung der Hauptversammlung zugrunde liegenden Vorstandsbeschlusses zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

1. Zu den behaupteten Einberufungsmängeln gemäß § 199 Abs 1 AktG

1.1. Zur Beginnzeit der Hauptversammlung

[13] 1.1.1. Nach der Gestaltung der §§ 195 ff AktG sollen gesetz- und satzungswidrige HV-Beschlüsse in aller Regel bloß anfechtbar und nur ausnahmsweise nichtig sein (Eckert/Schopper in Eckert/Schopper, AktG-ON Vor §§ 195–202 AktG Rz 5). Fehlerhafte Aktionärsbeschlüsse sind nur in den im Gesetz abschließend geregelten (RS0049464; 10 Ob 32/00d; 6 Ob 97/02m [ErwGr I.1.]; 1 Ob 32/10b) Fällen des § 199 AktG absolut nichtig. Die Nichtigkeit kann über Klage festgestellt werden (§ 201 AktG). Wenn kein im Gesetz abschließend geregelter Nichtigkeitsgrund vorliegt, kann ein Aktionärsbeschluss wegen Gesetzesverletzung oder Verletzung der Satzung (§ 195 AktG) angefochten werden.

[14] 1.1.2. § 199 Z 1 AktG ordnet für besonders schwere Einberufungsmängel die Nichtigkeit an. Diese sind dadurch charakterisiert, dass die Aktionäre auch bei sorgfältiger Beobachtung der Bekanntmachungen der Gesellschaft daran gehindert sind, von einer bevorstehenden Hauptversammlung Kenntnis zu nehmen (Eckert/Schopper in Eckert/Schopper, AktG-ON Vor §§ 195–202 AktG Rz 5).

[15] Nach § 199 Abs 1 Z 1 AktG ist ein Beschluss der Hauptversammlung nichtig, wenn diese entgegen § 105 Abs 1, § 106 Z 1 oder § 107 Abs 2 AktG einberufen wurde, sofern nicht ein Fall des § 105 Abs 5 AktG vorliegt.

[16] Nach § 105 Abs 1 Satz 1 AktG wird die Hauptversammlung durch den Vorstand einberufen.

[17] § 106 AktG regelt den Inhalt der Einberufung: Nach § 106 Z 1 AktG hat diese die Firma der Gesellschaft sowie die Angabe von Tag, Beginnzeit und Ort der Hauptversammlung zu enthalten.

[18] § 107 AktG regelt die – im vorliegenden Fall nicht beanstandete – Bekanntmachung der Einberufung.

[19] 1.1.3. Aus § 199 Abs 1 Z 1 iVm § 105 Abs 1 Satz 1 AktG leitete der Oberste Gerichtshof ab, dass bei einem mehrgliedrigen Vorstand die Einberufung der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft, sofern in der Satzung nichts Gegenteiliges geregelt wird, einen nach den Willensbildungsvorschriften für Kollegialorgane gefassten Vorstandsbeschluss erfordert (10 Ob 32/00d = RS0114610). Er beurteilte die in einer nicht vom Vorstand als Kollegialorgan, sondern von einem Vorstandsmitglied ohne jegliche Einbeziehung des zweiten Mitglieds einberufenen Hauptversammlung gefassten Beschlüsse als nichtig. Die Nichtigkeit – im Gegensatz zur bloßen Anfechtbarkeit – der gefassten Beschlüsse bei Einberufung der Hauptversammlung bloß durch ein Vorstandsmitglied ist demnach erforderlich, weil die Hauptversammlung ansonsten an einer Aktionärsgruppe vorbeigesteuert werden könnte (10 Ob 32/00d).

[20] 1.1.4. § 105 Abs 1 Satz 1 AktG setzt nach seinem Wortlaut eine Willensbildung im Vorstand über die Einberufung einer Hauptversammlung voraus. Er enthält aber keine Regelung des konkret erforderlichen Inhalts des Vorstandsbeschlusses; auch eine förmliche Dokumentation der Beschlussfassung ist nicht angeordnet. In der Literatur wird vertreten, der Vorstandsbeschluss habe sich auf alle in § 106 AktG angeführten Mindestinhalte zu erstrecken (Diregger in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG II³ § 199 Rz 19). Die Gegenmeinung betrachtet das Erfordernis einer konkreten Beschlussfassung des Vorstands über alle Mindesterfordernisse gemäß § 106 Z 1 AktG hingegen als überzogen (Eckert/Schopper in Artmann/Karollus, AktG III6 § 199 Rz 12; Eckert/Schopper/Setz in Eckert/Schopper, AktG‑ON § 105 Rz 3).

[21] 1.1.5. Die Klägerin machte als Nichtigkeitsgrund das Fehlen eines Vorstandsbeschlusses über die Beginnzeit der Hauptversammlung laut Protokoll der Vorstandsbesprechung am 6. 4. 2022 geltend.

[22] 1.1.6. Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Einberufung der virtuellen Hauptversammlung am 20. 5. 2022 ein von sämtlichen Vorstandsmitgliedern der Beklagten einstimmig gefasster Vorstandsbeschluss zugrunde lag. Darüber hinaus steht fest, dass der Tag und die Beginnzeit der Hauptversammlung in der bekannt gemachten Einberufung konkret angegeben und alle Vorstandsmitglieder der Beklagten bei der Hauptversammlung anwesend waren. Lediglich dazu, ob sich die Beschlussfassung in der Vorstandsbesprechung am 6. 4. 2022 auch auf die Beginnzeit bezog, traf das Erstgericht keine Feststellungen.

[23] 1.1.7. Da die Einberufung die gemäß § 106 Z 1 AktG erforderliche Angabe von Datum und Beginnzeit enthielt, ist den Anforderungen dieser Bestimmung insofern Genüge getan. Die gesetzeskonforme Bekanntmachung der Einberufung wurde von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen. Das von § 106 Z 1 AktG geschützte Interesse der Aktionäre, ihnen die Teilnahme an der Hauptversammlung zu ermöglichen, indem sie von Ort und Zeit der Abhaltung Kenntnis erlangen können (vgl RS0059692), war daher im vorliegenden Fall nicht gefährdet. Die Anwesenheit aller Vorstandsmitglieder bei der Hauptversammlung der Beklagten am 20. 5. 2022 lässt zudem erkennen, dass die in der Einberufung angegebene Beginnzeit allen Vorstandsmitgliedern bekannt und von deren Willen getragen war.

[24] Der Zweck von § 199 Abs 1, § 105 Abs 1 und § 106 Z 1 AktG erfordert in einem Fall wie dem vorliegenden nicht, diese Normen in Zusammenschau dahin auszulegen, dass der Vorstandsbeschluss über die Einberufung der Hauptversammlung bei sonstiger Nichtigkeit aller in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse jeden einzelnen der Mindestinhalte konkret und in förmlich dokumentierter Form – wie das die Klägerin insinuiert, die in ihrem Vorbringen beanstandete, der „in Blg ./1 protokollierte Beschluss des Vorstands“ lege die Uhrzeit des Beginns der Hauptversammlung nicht fest – umfasst. Wollte man die genannten Bestimmungen im Sinn des Rechtsstandpunkts der Klägerin auslegen, bedeutete dies eine Belastung der Gesellschaft durch Förmlichkeiten, ohne dass damit ein verbesserter Schutz der Teilnahmeinteressen der Aktionäre verbunden wäre. Eine am Zweck der Bestimmungen über die Einberufung der Hauptversammlung sowie am Zweck der Nichtigkeitsgründe gemäß § 199 Abs 1 Z 1 AktG orientierte Auslegung verlangt daher in einem Fall wie dem vorliegenden nicht die Nichtigkeit der in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse: In der allfälligen fehlenden Fassung eines Vorstandsbeschlusses über die Beginnzeit der Hauptversammlung – eine Feststellung dazu, ob eine solche Beschlussfassung erfolgte oder nicht, hat das Erstgericht nicht getroffen – kann, wenn die Beginnzeit in der Einberufung angegeben und bekannt gemacht wurde und sämtliche Vorstandsmitglieder durch ihre Teilnahme an der Hauptversammlung ihr Einverständnis bekundeten, keine Gesetzwidrigkeit der Einberufung erkannt werden.

[25] 1.1.8. Die Vorinstanzen haben daher zutreffend eine auf einen fehlenden Vorstandsbeschluss gegründete Nichtigkeit der in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse verneint.

[26] Auch die auf diesen Grund gestützte, eventualiter geltend gemachte Beschlussanfechtung nach § 195 Abs 1 AktG ist mangels Gesetzwidrigkeit – ein Satzungsverstoß wurde von der Klägerin nicht geltend gemacht – nicht berechtigt.

1.2. Zum Ort der Hauptversammlung

[27] 1.2.1. § 482 Abs 1 ZPO schließt die Geltendmachung neuer Ansprüche und die Erhebung neuer Einreden im Berufungsverfahren aus (Pimmer in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ § 482 ZPO Rz 8). Hingegen steht das Neuerungsverbot des § 482 ZPO einer Änderung der rechtlichen Argumentation einer Partei im Rechtsmittelverfahren nicht entgegen, soweit dieser das bisherige tatsächliche Vorbringen zugrunde gelegt wird (RS0016473).

[28] 1.2.2. Geht das Berufungsvorbringen zum Anspruchsgrund über den in erster Instanz vorgebrachten Streitgegenstand hinaus, so wird dadurch ein neuer Anspruch geltend gemacht.

[29] Der gleiche Streitgegenstand liegt nur vor, wenn sowohl Begehren als auch rechtserzeugender Sachverhalt, also Klagegrund, ident sind (vgl RS0039347; RS0039255; RS0037522). Bei Klagen auf Feststellung der Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen bestimmt sich der Streitgegenstand nach dem Urteilsantrag und dem diesem zugrunde liegenden konkreten Gesetzesverstoß (vgl 4 Ob 81/21x [Rz 10] zum Streitgegenstand bei immaterialgüter- und wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklagen). Zwar muss der Kläger seinen Feststellungs- oder Anfechtungsanspruch nicht rechtlich qualifizieren, er muss ihn aber durch das Vorbringen von Tatsachen umschreiben und die „Angriffsrichtung“ erkennen lassen (RS0037447; 6 Ob 16/11p [ErwGr 1] zu § 41 GmbHG und § 195 AktG). Daher wird ein neuer Anspruch geltend gemacht, wenn Einberufungsmängel auf andere als in erster Instanz beanstandete Umstände gestützt werden.

[30] 1.2.3. Im vorliegenden Fall monierte die Klägerin im Verfahren erster Instanz Einberufungsmängel wegen der Einberufung und Abhaltung als virtueller anstatt in Präsenz stattfindender Versammlung sowie das Fehlen eines Vorstandsbeschlusses über die Beginnzeit der Versammlung. Eine Angriffsrichtung dahin, dass die Klägerin die in der Einberufung enthaltene Ortsangabe der virtuellen Hauptversammlung „in Wien“ als ungenügend erachtete und das Fehlen eines Vorstandsbeschlusses über den Versammlungsort beanstandete, kann ihrem erstinstanzlichen Vorbringen nicht entnommen werden. Ein Vorbringen dieses Inhalts findet sich erstmals in der Berufung der Klägerin.

[31] Dieses Berufungsvorbringen ist nicht bloß als Änderung oder Ergänzung der rechtlichen Argumentation der Klägerin zu beurteilen, sondern bringt eine gänzlich neue „Angriffsrichtung“ in das Verfahren ein. Dadurch wird der durch das Klagevorbringen in erster Instanz festgelegte Streitgegenstand verlassen.

[32] Zutreffend beurteilte das Berufungsgericht dieses Vorbringen daher als im Berufungsverfahren unzulässig erhobene Neuerung.

2. Zur Zulässigkeit der Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung

[33] 2.1. Nach § 1 COVID-19-GesG in der von 22. 3. 2020 bis zum Ablauf des 31. 12. 2023 in Kraft gestandenen Fassung BGBl I 2020/24 (4. COVID-19-Gesetz) konnten Versammlungen von Gesellschaftern und Organmitgliedern einer Kapitalgesellschaft und anderer juristischer Personen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 nach Maßgabe der Verordnung gemäß Abs 2 dieser Bestimmung auch ohne physische Anwesenheit der Teilnehmer durchgeführt und Beschlüsse auch auf andere Art gefasst werden.

[34] 2.2. § 2 COVID-19-GesV regelte die Zulässigkeit virtueller Versammlungen, § 3 dieser Verordnung enthielt Sonderbestimmungen für die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft.

[35] Nach dem – auch für Aktiengesellschaften geltenden – § 2 Abs 3 COVID-19-GesV war die Entscheidung, ob eine virtuelle Versammlung durchgeführt werden soll und welche Verbindungstechnologie dabei zum Einsatz kommt, von jenem Organ oder Organmitglied zu treffen, das die betreffende Versammlung einberief. Dabei waren sowohl die Interessen der Gesellschaft als auch die Interessen der Teilnehmer angemessen zu berücksichtigen.

[36] Der Verordnungsgeber gestand dem einberufenden Organ demnach keine unbedingte Befugnis zur Abhaltung einer virtuellen Versammlung zu (Adensamer/Breisich/Eckert, COVID-19: Beschlussfassungen bei Kapitalgesellschaften, GesRZ 2020, 99 [103]; vgl 6 Ob 60/12k zur Berücksichtigung der Interessen der Gesellschafter bei der Wahl des Ortes und Termins der [General-]Versammlung aufgrund der allgemeinen Treuepflicht).

[37] Der zur COVID-19-GesV ergangene Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 28. 12. 2020 (GZ 2020‑0.829.596) führte als Beispiele berücksichtigungswürdiger Interessen auf Seiten der Gesellschaft den geregelten und gut planbaren Ablauf der Versammlung sowie als beachtlich auf Seiten der Gesellschafter deren bekannte oder mutmaßliche Interessen wie die voraussichtliche Infektionsgefahr und technische Ausstattung an.

[38] Die Literatur nennt als weitere Beispiele die allfällige Notwendigkeit der Einhaltung einer Sitzungsfrequenz und die erforderliche Beratungsintensität über den Beschlussgegenstand (Rieder, Gesellschaftsrechtliche Aspekte der COVID-19-Gesetzgebung, NZ 2020, 134 [138]; Artmann, Gesellschaftsrecht in Corona-Zeiten, JBl 2020, 481 [483]), Beschränkungen für Versammlungen oder die Anreise (Adensamer/Breisich/Eckert, COVID-19: Beschlussfassungen bei Kapitalgesellschaften, GesRZ 2020, 99 [103]; Schörghofer/Mitterecker, Die streitige virtuelle Generalversammlung, GeS 2020, 191 [192]; Artmann in Resch, Das Corona-Handbuch [2020], COVID-19 und Gesellschaftsrecht, 281 [Rz 18]) oder die Möglichkeit eines Präventionskonzepts mit zumutbaren Kosten (Told/Neumaier, Willensbildung in der Kapitalgesellschaft in absentia, wbl 2020, 361 [369]).

[39] 2.3. Für die konkrete Vornahme der Interessenabwägung durch den Vorstand gilt, dass die Vorstandsmitglieder die widerstreitenden Interessen nach pflichtgemäßem Ermessen abzuwägen haben. Hält sich der Vorstand im Rahmen dieses Ermessens, missbraucht er also das Ermessen nicht durch einseitige Bevorzugung einer der zu berücksichtigenden Interessen, so ist die gebotene Sorgfaltspflicht gewahrt (RS0049482).

[40] 2.4. Die vom Vorstand im vorliegenden Fall angestellten Erwägungen tun den dargestellten Grundsätzen Genüge. Eine einseitige Bevorzugung der Interessen der Gesellschaft gegenüber den Aktionärsinteressen oder eine sonstige Ermessensüberschreitung sind nicht ersichtlich. Ob der Vorstand zu jedem einzelnen der in der Literatur beispielhaft genannten Kriterien Erwägungen anstellte, ist nicht entscheidend, solange die angestellten Überlegungen sachorientiert sind. Dass die Klägerin die Erwägungen des Vorstands der Beklagten nicht teilt und der Ausübung des Rede‑, Auskunfts-, Stimm- und Teilnahmerechts in Präsenz ein höheres Gewicht beimisst als der Vermeidung von Ansteckungsgefahr und der Planungssicherheit, ist nicht geeignet, eine Ermessensüberschreitung durch den Vorstand der Beklagten aufzuzeigen. Die Vorinstanzen haben die Einberufung und Abhaltung der Hauptversammlung der Beklagten als virtuelle Versammlung daher zutreffend als zulässig beurteilt.

[41] 2.5. Soweit in der Revision moniert wird, die Notwendigkeit einer Internetverbindung schließe Personen ohne eine solche von der Teilnahme an der Hauptversammlung aus, war dieses Erfordernis durch die Ermöglichung virtueller Gesellschafterversammlungen durch das COVID-19-GesG gedeckt. Eine konkrete Einschränkung des Teilnahmerechts der Klägerin wird in diesem Zusammenhang ebenso wenig aufgezeigt wie im Zusammenhang damit, dass für die Ausübung des Auskunfts-, Stimm-, Antrags- und Widerspruchsrechts der Aktionäre jeweils eine Übermittlung per E-Mail vorzunehmen war.

[42] Dass das Berufungsgericht die von der Klägerin behauptete Einschränkung des Frage- und Auskunftsrechts der Klägerin verneinte, begegnet schon vor dem Hintergrund der Feststellung, dass allfällige, von der Klägerin allerdings tatsächlich nicht gestellte Nachfragen trotz des bereits verstrichenen Annahmeschlusses für Fragen der Aktionäre seitens der Beklagten noch beantwortet worden wären, keinen Bedenken.

[43] 2.6. Der behauptete Mangel des Berufungsverfahrens – die ungenügende Auseinandersetzung des Berufungsgerichts mit der Beweisrüge der Klägerin – wurde geprüft; er liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[44] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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