European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0170OB00005.25X.0626.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Unionsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Das (bisher zu 17 Ob 23/23s geführte) Rekursverfahren wird fortgesetzt.
Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der Beschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der beklagten Partei an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rekursverfahrens und des Verfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Mit Beschluss vom 25. 5. 2022 zu AZ * eröffnete das Landesgericht Linz das Konkursverfahren über das Vermögen des Schuldners A* A*. Der Kläger wurde zum Insolvenzverwalter bestellt. Die öffentliche Bekanntmachung der Insolvenzeröffnung und des Insolvenzverwalters erfolgte noch am 25. 5. 2022.
[2] Die Beklagte ist eine in den Niederlanden ansässige Gesellschaft niederländischen Rechts. Sie ist eine der führenden Gebrauchtwagenhändlerinnen in Europa und Mitglied einer europaweit agierenden Konzerngruppe, die in Österreich eine Zweigniederlassung betreibt. Mit dem im eigenen Namen am 2. 6. 2022 – also nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens – in dieser Zweigniederlassung der Beklagten abgeschlossenen Kaufvertrag veräußerte der Schuldner der Beklagten einen Pkw um 48.870 EUR. Nach Übergabe des Fahrzeugs in Österreich überwies die Beklagte den Kaufpreis von einem Konto in Deutschland auf das vom Schuldner angegebene Konto in Österreich.
[3] Der Kläger begehrte zunächst die Zahlung von 48.870 EUR sA an die Insolvenzmasse, weil der Kaufvertrag nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Schuldner abgeschlossen worden sei. Das Fahrzeug sei im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Eigentum des Schuldners gestanden. Die Beklagte habe den Kaufpreis von 48.870 EUR auf das Konto einer dritten Person (Ex‑Lebensgefährtin des Schuldners) überwiesen. Die Beklagte habe das Fahrzeug in der Zwischenzeit weiterveräußert, weshalb der Kläger Wertersatz an die Insolvenzmasse fordere.
[4] In der Tagsatzung vom 16. 3. 2023 dehnte der Kläger die Klage auf den Verkehrswert des Fahrzeugs von 62.261 EUR sA aus.
[5] Die Beklagte bestritt und brachte im Wesentlichen vor, dass das Fahrzeug zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht im Eigentum des Schuldners gestanden und daher nicht Bestandteil der Insolvenzmasse gewesen sei. In Österreich betreibe sie lediglich eine Zweigniederlassung, sie sei in den Niederlanden registriert. Die Überweisung sei von der Beklagten – und nicht der österreichischen Zweigniederlassung – in Deutschland von einem deutschen Bankinstitut getätigt worden. Der einzige Inlandsbezug des streitgegenständlichen Kaufvertrags sei, dass dieser in Österreich unterschrieben und das Fahrzeug auch dort übergeben worden sei. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch bestehe nicht, weil aufgrund des Auslandsbezugs Art 31 EuInsVO anzuwenden sei. Die Beklagte könne nur in Anspruch genommen werden, wenn sie von der Insolvenzeröffnung gewusst hätte, was nicht der Fall gewesen sei.
[6] Das Erstgericht gab der Klage im ursprünglichen Umfang statt. Das (ausgedehnte) Mehrbegehren von 13.391 EUR sA wies es (mittlerweile rechtskräftig) ab. Es gelangte zu dem Ergebnis, dass die vorliegende Konstellation nicht von Art 31 EuInsVO erfasst sei. Die Beklagte könne daher den Gutglaubensschutz nach dieser Bestimmung nicht in Anspruch nehmen.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, hob das erstgerichtliche Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Rechtlich vertrat es den Standpunkt, dass Art 31 EuInsVO aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht nur § 3 Abs 2 IO, sondern auch § 3 Abs 1 IO verdränge. Die Zahlung an den Insolvenzschuldner sei in Deutschland geprüft und von einem deutschen Konto veranlasst worden. Aus diesem Grund sei Art 31 EuInsVO anzuwenden. Es fehlten Feststellungen zum Wissen der Beklagten über die Insolvenzeröffnung, sodass eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich sei.
[8] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof wegen des Fehlens von höchstgerichtlicher Rechtsprechung zu den Anwendungsvoraussetzungen des Art 31 EuInsVO zulässig sei.
[9] Der Rekurs des Klägers an den Obersten Gerichtshof strebt die Wiederherstellung des Ersturteils an; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Zum einen sei Art 31 EuInsVO nicht anzuwenden, weil die Bestimmung nur die schuldbefreiende Wirkung der Leistung regle und einen gültigen Vertrag voraussetze, der hier gemäß § 3 Abs 1 IO nicht vorliege. Zum anderen schütze die Norm nur das Vertrauen des Vertragspartners in den unveränderten Fortbestand der Rechtszuständigkeit, erfasse aber nicht Fälle, in denen (wie hier) der Vertragspartner erst nach Insolvenzeröffnung mit dem Schuldner kontrahiere. Auch habe die Beklagte die maßgebliche Leistung in Österreich erbracht, sodass kein Auslandsbezug iSv Art 31 EuInsVO vorliege.
[10] Die Beklagte beantragt in ihrer Rekursbeantwortung die Zurückweisung des Rekurses; hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
[11] Aus Anlass des Rekurses stellte der Senat mit Beschluss vom 22. 2. 2024, 17 Ob 23/23s (= RS0134680) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (Art 267 AEUV) und setzte das Rekursverfahren bis zum Einlangen der Vorabentscheidung aus. Mit Urteil vom 27. 3. 2025, C‑186/24 , entschied der Gerichtshof der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen. Das Urteil langte am selben Tag beim Obersten Gerichtshof ein. Das Rekursverfahren ist daher fortzusetzen.
Rechtliche Beurteilung
[12] Der Rekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
[13] 1. Nach den Verweisungsnormen des Art 7 Abs 2 lit c) und m) EuInsVO sind die jeweiligen Befugnisse des Schuldners und des Verwalters sowie die Nichtigkeit, Anfechtbarkeit oder relative Unwirksamkeit von Rechtshandlungen, die die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen, nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung zu beurteilen. Folglich bestimmen sich die Wirkungen der Rechtshandlungen und des Umfangs der Verfügungsbeschränkungen des Schuldners sowie die Zulässigkeit eines Gutglaubenserwerbs vom Schuldner nach der lex fori concursus, wobei aber insbesondere auch Art 31 EuInsVO zu beachten ist (Trenker in Koller/Lovrek/Spitzer IO2 [2022] Art 7 EuInsVO Rz 16; Maderbacher in Konecny, Insolvenzgesetze Art 7 EuInsVO 2015 [Stand 1. 9. 2018, rdb.at] Rz 38; Knof in Uhlenbruck, InsO16 [2023] Art 7 EuInsVO Rn 49, 102; Duursma‑Kepplinger in Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky, EuInsVO [2002] Art 4 Rn 15).
[14] 2.1. Nach österreichischem Recht wird durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens das gesamte der Exekution unterworfene Vermögen, das dem Schuldner zu dieser Zeit gehört oder das er während des Insolvenzverfahrens erlangt (Insolvenzmasse), der freien Verfügung entzogen (§ 2 Abs 2 IO). Nach § 3 Abs 1 IO sind Rechtshandlungen des Schuldners nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, welche die Insolvenzmasse betreffen, den Insolvenzgläubigern gegenüber unwirksam.
[15] 2.2. Die Insolvenzeröffnung bringt eine doppelte Verfügungsbeschränkung für den Schuldner mit sich, nämlich eine tatsächliche mit der Übernahme der Verwaltung durch den Insolvenzverwalter und eine rechtliche, unmittelbar mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens eintretende, die sich in der relativen Unwirksamkeit der Rechtshandlungen des Schuldners äußert. Sie führt zu keiner allgemeinen Beschränkung der Handlungsfähigkeit des Schuldners. Dieser bleibt vielmehr verpflichtungsfähig. Allerdings sind die Masse betreffende Rechtshandlungen des Schuldners den Insolvenzgläubigern gegenüber unwirksam (RS0063784, 17 Ob 6/21p). Das heißt, der Schuldner kann demnach auch nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens rechtsgeschäftliche Verpflichtungen eingehen, es können aber daraus abgeleitete Forderungen bis zur Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht zu Lasten der Insolvenzmasse geltend gemacht werden (Kodek in Koller/Lovrek/Spitzer IO2 § 3 IO Rz 6).
[16] 2.3. Geht der Masse durch eine iSd § 3 Abs 1 IO unwirksame Rechtshandlung des Schuldners eine Sache verloren, so kann diese zurückgefordert werden (17 Ob 12/21w). Kann der Erwerber die vom Schuldner erworbene Sache nicht mehr zurückstellen, weil er sie zB zufolge Weiterverkaufs nicht mehr besitzt, ist nach bürgerlichem Recht zu beurteilen, inwieweit der Erwerber einem Schadenersatz- oder Bereicherungsanspruch ausgesetzt ist (Schubert in Konecny/Schubert, Insolvenzgesetze § 3 KO Rz 21).
[17] 2.4. § 3 Abs 1 IO, der die Unwirksamkeit von Rechtshandlungen des Schuldners, die die Insolvenzmasse betreffen, normiert, sieht im Unterschied zu § 3 Abs 2 IO keine Einschränkung dieses Grundsatzes zugunsten des gutgläubigen Dritten vor, der vom Schuldner erwirbt, dem aber die Insolvenzeröffnung – ohne sein Verschulden – unbekannt geblieben ist.
[18] 2.5. § 3 Abs 2 IO regelt, dass der Drittschuldner durch Zahlung seiner Schuld an den Schuldner nicht befreit wird. Dies ist eine Ausprägung des Grundsatzes des § 3 Abs 1 IO, weil auch die Annahme einer Zahlung eine Rechtshandlung iSd § 3 Abs 1 IO darstellt. Da dem Schuldner die Verfügungsbefugnis über die Insolvenzmasse entzogen wird, fehlt auch die Empfangszuständigkeit für Leistungen aus Forderungen, die zur Insolvenzmasse gehören. Eine Ausnahme besteht dann, wenn das Geleistete der Insolvenzmasse zugewendet wurde oder aber dem Drittschuldner die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ohne sein Verschulden unbekannt war.
[19] 3. Dagegen bezweckt Art 31 Abs 1 EuInsVO den Schutz des guten Glaubens eines Dritten, der in einem anderen Mitgliedstaat als jenem der Verfahrenseröffnung nach dem Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung in Unkenntnis dieses Tatbestands eine Leistung an den Schuldner erbringt, obwohl er an den Verwalter hätte leisten müssen. Derartige Leistungen werden für schuldbefreiend erklärt (Klauser/Weber in Konecny, Insolvenzgesetze Art 31 EuInsVO 2015 [Stand 1. 9. 2018, rdb.at] Rz 1; Scholz‑Berger in Koller/Lovrek/Spitzer IO2 Art 31 EuInsVO Rz 1; Müller in Mankowski/Müller/J. Schmidt EuInsVO 2015 Art 31 EuInsVO Rn 2).
[20] 4. Der Senat legte dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 22. 2. 2024, 17 Ob 23/23s (= RS0134680), die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vor (Art 267 AEUV):
„1. Ist Art 31 Abs 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren ('EuInsVO 2015') dahin auszulegen, dass unter Leistungen an den Schuldner, die an den Verwalter des Insolvenzverfahrens geleistet hätten werden müssen, im Sinn dieser Bestimmung auch solche Leistungen fallen, die aus einem Rechtsgeschäft, das der Schuldner erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Übergang der Befugnisse auf den Verwalter abgeschlossen hat, resultieren?
Für den Fall, dass diese Frage bejaht wird:
2. Ist Art 31 Abs 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren ('EuInsVO 2015') dahin auszulegen, dass als Ort der Leistung im Sinn dieser Bestimmung jener Ort anzusehen ist, von dem aus die Zahlung des Dritten durch Überweisung von einem dortigen Bankkonto erfolgt, auch wenn der Dritte nicht in diesem, sondern einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, der Abschluss des Rechtsgeschäfts und die Leistung des Schuldners wiederum nicht dort, sondern über eine Zweigniederlassung des Dritten in einem weiteren Mitgliedstaat erfolgte, nämlich in jenem, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde?“
[21] 5. Der Gerichtshof der Europäischen Union hielt in seinem Urteil über dieses Vorabentscheidungsersuchen vom 27. 3. 2025, C‑186/24 , fest:
„[20] Was erstens den Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 betrifft, so bestimmt dieser, dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat an einen Schuldner leistet, über dessen Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, obwohl sie an den Verwalter des Insolvenzverfahrens hätte leisten müssen, befreit wird, wenn ihr die Eröffnung des Verfahrens nicht bekannt war. Es ist festzustellen, dass der Wortlaut dieser Bestimmung nichts enthält, was die Annahme zuließe, dass sie nicht auf eine Leistung, die aus einem Rechtsgeschäft, das ein Schuldner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeschlossen hat, resultiert, anwendbar wäre.
[21] Was zweitens den Zusammenhang betrifft, in den sich Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 einfügt, hat der Gerichtshof zwar entschieden, dass es sich um eine materiell-rechtliche Bestimmung handelt, die unabhängig von der lex concursus anwendbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2013, Van Buggenhout und Van de Mierop, C‑251/12 , EU:C:2013:566, Rn. 23).
[22] Diese Bestimmung kann jedoch nicht unabhängig von Art. 7 der Verordnung 2015/848 verstanden werden, der das auf das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen anwendbare Recht bestimmt. Aus Art. 7 Abs. 2 Buchst. b und m dieser Verordnung ergibt sich, dass das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, wie die nach der Verfahrenseröffnung vom Schuldner erworbenen Vermögenswerte zu behandeln sind und welche Rechtshandlungen relativ unwirksam sind, weil sie die Gläubiger benachteiligen.
[23] Daraus folgt, dass die Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 auf eine Leistung, die aus einem Rechtsgeschäft, das ein Schuldner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeschlossen hat, resultiert, von den Rechtsvorschriften über die Wirksamkeit von Rechtshandlungen des Staates der Verfahrenseröffnung abhängt.
[24] Somit ergibt sich aus einer systematischen Auslegung von Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 , dass unter den Begriff 'Leistung' im Sinne dieser Bestimmung eine Leistung fällt, die aus einem Rechtsgeschäft nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Übergang der Befugnisse auf den Insolvenzverwalter resultiert, sofern ein solches Rechtsgeschäft nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung den an diesem Verfahren beteiligten Gläubigern gegenüber wirksam ist.
[25] Diese Auslegung wird drittens durch das mit Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 verfolgte Ziel bestätigt. Aus dem 81. Erwägungsgrund dieser Verordnung geht nämlich hervor, dass diese Bestimmung einen Dritten schützen soll, der in Unkenntnis der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat gutgläubig davon überzeugt ist, dass seine Leistung an den Schuldner schuldbefreiende Wirkung hat.
[26] Würde jedoch einer Leistung, die aus einem Rechtsgeschäft resultiert, das den an diesem Verfahren beteiligten Gläubigern nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung gegenüber unwirksam ist, schuldbefreiende Wirkung zuerkannt, ginge dies über den vom Unionsgesetzgeber gewollten Schutz des guten Glaubens Dritter hinaus. In diesem Fall wäre der Dritte nämlich vor einer etwaigen Klage des Insolvenzverwalters gegen ihn wegen ungerechtfertigter Bereicherung geschützt. Eine solche Auslegung von Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 liefe im Übrigen dem Grundsatz zuwider, dass Ausnahmen von der automatischen Anerkennung der Wirkungen eines Insolvenzverfahrens eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2024, Luis Carlos u. a., C‑765/22 und C‑772/22 , EU:C:2024:331, Rn. 74).
[27] Außerdem würde eine Auslegung, die der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils vertretenen Auslegung widerspricht, es dem Schuldner ermöglichen, Vermögensgegenstände leicht aus der Insolvenzmasse zu verlagern, indem er sie nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens an einen Dritten verkauft. Diese Auslegung würde daher eines der Hauptziele der Verordnung 2015/848 , das im fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannt ist, vereiteln, nämlich zu verhindern, dass es für die Parteien vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlagern, um auf diese Weise eine günstigere Rechtsstellung zu erlangen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. September 2013, Van Buggenhout und Van de Mierop, C‑251/12 , EU:C:2013:566, Rn. 35).
[28] Im vorliegenden Fall bestimmt § 3 Abs. 1 der Insolvenzordnung, dass Rechtshandlungen des Schuldners nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, welche die Insolvenzmasse betreffen, gegenüber den an diesem Verfahren beteiligten Gläubigern unwirksam sind. Dies würde bedeuten, dass der Verkauf, den der Schuldner nach Eröffnung des ihn betreffenden Insolvenzverfahrens mit [der Beklagten] abgeschlossen hat, nach österreichischem Recht unwirksam ist, was das vorlegende Gericht zu beurteilen hat. Sollte dies der Fall sein, wäre Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 nicht anwendbar.
[29] Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 31 Abs. 1 der Verordnung 2015/848 dahin auszulegen ist, dass unter Leistungen an einen einem Insolvenzverfahren unterliegenden Schuldner, die an den Verwalter dieses Insolvenzverfahrens hätten erbracht werden müssen, auch Leistungen fallen, die aus einem Rechtsgeschäft, das der Schuldner nach Eröffnung dieses Insolvenzverfahrens und Übergang der Vermögensverwaltung auf den Verwalter abgeschlossen hat, resultieren, sofern ein solches Rechtsgeschäft nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung gegenüber den am Insolvenzverfahren beteiligten Gläubigern wirksam ist.
[30] In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.“
[22] 6. Für in Österreich eröffnete Insolvenzverfahren folgt aus der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zusammengefasst: Leistungen eines Dritten an den Schuldner aufgrund eines nach § 3 Abs 1 IO den Insolvenzgläubigern gegenüber unwirksamen Rechtsgeschäfts sind keine Leistungen iSd Art 31 EuInsVO.
[23] 7. Im vorliegenden Fall schloss der Schuldner mit der Beklagten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Kaufvertrag über einen Pkw.
[24] 7.1. Gehörteder Pkw – wie der Kläger vorgebracht hat – im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem Schuldner (und damit gemäß § 2 Abs 2 IO zur Insolvenzmasse), ist der Kaufvertrag zwischen dem Schuldner und der Beklagten nach § 3 Abs 1 IO den Insolvenzgläubigern gegenüber unwirksam. Eine Einschränkung dieses Grundsatzes zugunsten eines gutgläubigen Dritten normiert diese Bestimmung nicht. Gemäß der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann sich die Beklagte diesfalls auch nicht auf Art 31 Abs 1 EuInsVO berufen, weil das Rechtsgeschäft nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung (Österreich) gegenüber den am Insolvenzverfahren beteiligten Gläubigern unwirksam ist und deshalb keine Leistung iSd Art 31 Abs 1 EuInsVO vorliegt.
[25] 7.2. Gehörte der Pkw dagegen – wie die Beklagte argumentiert hat – im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht dem Schuldner (und damit gemäß § 2 Abs 2 IO nicht zur Insolvenzmasse), ist der Kaufvertrag über den Pkw nicht von der Verfügungsbeschränkung des § 3 Abs 1 IO betroffen. Art 31 Abs 1 EuInsVO ist diesfalls von vornherein nicht anzuwenden, weil die Beklagte nicht an den Insolvenzverwalter hätte leisten müssen.
[26] 8. In jedem Fall ist die vom Berufungsgericht für erheblich angesehene Feststellung, ob die Beklagte im Zeitpunkt der Zahlung (positive) Kenntnis von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über den Schuldner hatte (vgl Art 31 Abs 1 EuInsVO), entbehrlich.
[27] 9. Da das Berufungsgericht aufgrund seiner nach der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union unhaltbaren Rechtsansicht zu Art 31 Abs 1 EuInsVO nicht auf die Verfahrens‑ und Beweisrüge der Beklagten eingegangen ist, liegt kein gesicherter Sachverhalt zur abschließenden Beurteilung vor:
[28] 9.1. Sachen, die zwar in der Gewahrsame des Schuldners sind, aber einem anderen gehören, sind nicht Teil der (maßgeblichen) Insolvenzmasse iSd § 2 Abs 2 IO („Sollmasse“). Das gilt insbesondere für Sachen, an denen Aussonderungsrechte Dritter nach § 44 IO bestehen (vgl RS0063707; RS0009743; RS0123755), etwa weil sie in deren Alleineigentum stehen (vgl Schulyok in Konecny/Schubert, Insolvenzgesetze § 44 KO Rz 7; Spitzer in Koller/Lovrek/Spitzer, IO2 § 44 Rz 25; vgl auch 17 Ob 1/23f). Aus § 97 Abs 1 IO folgt, dass Sachen in der Gewahrsame des Schuldners (auch) zur „Sollmasse“ gehören, solange nicht das Gegenteil feststeht (vgl 1 Ob 290/02g, ErwGr 3. = RS0065404 [T1]). Gelingt dem Insolvenzverwalter daher der Beweis, dass der Schuldner eine Sache im maßgeblichen Zeitpunkt (hier: Eröffnung des Insolvenzverfahrens) innegehabt hat, hat ein Dritter, der die Zugehörigkeit zur „Sollmasse“ wegen eines angeblichen eigenen oder fremden Aussonderungsrechts an dieser Sache bestreitet, diese Behauptung zu beweisen (vgl auch 3 Ob 161/01z zur Klage nach § 37 EO).
[29] 9.2. Die Ansicht des Erstgerichts, dass für die Zugehörigkeit des Pkw zur Insolvenzmasse iSd § 2 Abs 2 IO bereits die Innehabung durch den Schuldner im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausreiche, ist vor diesem Hintergrund nicht zu teilen. Sollte – wie von der Beklagten vorgebracht – nicht der Schuldner, sondern eine Dritte Eigentümerin des Pkw sein, wäre der Kaufvertrag über den Pkw nicht von der Verfügungsbeschränkung des § 3 Abs 1 IO betroffen gewesen. Sollte also der Schuldner mit der Beklagten (rund eine Woche nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens) tatsächlich im eigenen Namen einen Kaufvertrag über eine fremde Sache geschlossen haben, bestünde das Klagebegehren nicht zu Recht. Die Innehabung des Pkw durch den Schuldner im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens würde aber für seine Zugehörigkeit zur „Sollmasse“ sprechen, solange der Beklagten nicht der Beweis des Gegenteils gelänge.
[30] 9.3. Die Beklagte hat das Vorbringen des Klägers, dass der Schuldner im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Inhaber und Eigentümer des Pkw gewesen sei, mit der wesentlichen Behauptung bestritten, dass nicht der Schuldner, sondern eine Dritte den Pkw erworben, bezahlt und innegehabt habe. Das Erstgericht hat zwar festgestellt, dass der Schuldner (und nicht die Dritte) den Pkw erworben und im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens innegehabt habe. Die Beklagte hat diese Feststellungen aber in der Berufung mit einer Verfahrens‑ und einer Beweisrüge bekämpft, die das Berufungsgericht noch nicht behandelt hat. Beide Rügen sind abstrakt geeignet, zu anderen Feststellungen zu führen, nämlich dass die Dritte das Fahrzeug erworben und im maßgeblichen Zeitpunkt innegehabt hat. Dann gäbe es im Lichte des Vorbringens der Parteien keinen Hinweis darauf, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt Eigentümer des Pkw gewesen sein könnte, sodass der Pkw nicht zur „Sollmasse“ gehören würde.
[31] 10. Der Beschluss des Berufungsgerichts ist daher aufzuheben. Das Berufungsgericht hat neuerlich über die Berufung der Beklagten zu entscheiden und sich dabei mit den noch nicht behandelten Berufungsgründen und ‑argumenten zu befassen.
[32] 11. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 3 ZPO.
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