OGH 13Os49/91 (13Os50/91)

OGH13Os49/91 (13Os50/91)16.10.1991

Der Oberste Gerichtshof hat am 16.Oktober 1991 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hörburger, Dr. Kuch, Dr. Massauer und Dr. Markel als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kandera als Schriftführerin in der Strafsache gegen Gerhard P***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzs gegen die Urteile des Bezirksgerichtes Wr.Neustadt vom 2.Mai 1990, GZ 5 U 2507/89-12 und des Kreisgerichtes Wr.Neustadt vom 12. Oktober 1990, GZ 7 Bl 238/90-18, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Generalanwaltes Dr. Kodek, und des Verteidigers Dr. Schilcher jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Urteile des Bezirksgerichtes Wr.Neustadt vom 2.Mai 1990, GZ 5 U 2507/89-12, und des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 12.Oktober 1990, AZ 7 Bl 238/90 (= 5 U 2507/88-18), verletzen das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 6, sowie 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB. Diese Urteile werden aufgehoben und es wird gemäß dem § 288 Abs. 2 Z 3 StPO sogleich in der Sache selbst erkannt:

Gerhard P***** wird von der Anklage, er habe am 25.August 1989 in P***** auf dem Altpapierlagerplatz der Firma B***** und B***** als Staplerfahrer die Radfahrerin Christine P***** dadurch fahrlässig am Körper verletzt, daß er sie infolge Unachtsamkeit übersah und niederstieß, wobei die Tat eine an sich schwere Verletzung zur Folge hatte und die Dauer der Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit mehr als 24 Tage betrug, er habe hiedurch das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB begangen, gemäß dem § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Text

Gründe:

I. Mit Urteil des Bezirksgerichtes Wiener Neustadt vom 2. Mai 1990, GZ 5 U 2507/89-12, wurde Gerhard P***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 und 4, erster Fall, StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er am 25.August 1989 in P***** auf dem Altpapierlagerplatz der Firma B***** & B***** als Staplerfahrer dadurch, daß er infolge Unachtsamkeit die Radfahrerin Christine P***** übersah und niederstieß, diese fahrlässig am Körper verletzte, wobei die Tat eine schwere (im Urteil näher beschriebene) Verletzung zur Folge hatte und die Dauer der Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit mehr als 24 Tage betrug.

Nach den hier wesentlichen Urteilsfeststellungen war Gerhard P***** zur Tatzeit als Staplerfahrer damit beschäftigt, mit einem sogenannten Zangenstapler von Eisenbahnwaggons Papierballen aufzunehmen und auf dem Altpapierlagerplatz der Firma B***** & B***** abzuladen. Durch die (im Betrieb allgemein praktizierte) Aufladung von jeweils zwei Papierballen hat der Fahrer praktisch keine Sicht nach vorne. Der Beschuldigte nahm auch im Anlaßfall zwei Papierballen vom Waggon herunter und fuhr so weit bogenförmig zurück, daß er parallel zum Eisenbahnwaggon stand und der Vorderteil seines Fahrzeugs nun zur Halle zeigte. Dafür benötigte er eine Zeit von fünf Sekunden. Sodann fuhr er sofort nach vorne, um das Papier in einer Entfernung von etwa 20 Metern abzuladen. Nach weiteren etwa 3 Sekunden erreichte er die spätere Kollisionsstelle.

Zur Unfallszeit fuhr die Zeugin Christine P*****, die als Aufräumefrau in diesem Unternehmen gleichfalls beschäftigt ist, mit ihrem Fahrrad vom Eingang der Halle in Richtung Werk 1. Dabei mußte sie die Fahrtroute des Beschuldigten zwischen dem Waggon und dem Altpapierlagerplatz kreuzen. Bis zur Kollision mit dem Stapler durchfuhr sie eine Strecke von ca 16 Metern. Sie hätte unmittelbar nach dem Besteigen ihres Fahrrades den Stapler bereits sehen können. Ca drei Sekunden vor dem Zusammenstoß konnte sie bemerken, daß der Staplerfahrer ihre Fahrlinie kreuzen würde. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich 7,5 Meter vor der späteren Kollisionsstelle und hätte noch vor dieser anhalten können. Der Beschuldigte hingegen konnte zufolge der durch die transportierten Papierballen hervorgerufenen Sichtbehinderung erst unmittelbar nach dem Unfall das auf dem Boden liegende Fahrrad sehen. Ausreichende Sicht hätte er gehabt, wenn er nur einen Ballen geladen gehabt hätte. So aber sah er die Radfahrerin vor dem Zusammenstoß überhaupt nicht.

Die Zeugin hatte ihr Fahrrad vor der Halle des Werks 2 abgestellt, obwohl dies den Anweisungen im Betrieb widersprach; tatsächlich wurde diese Anweisung jedoch nicht rigoros gehandhabt und immer wieder übertreten, was auch dem Beschuldigten bekannt war. Im Bereich der Unfallstelle herrscht kein allgemeines Fahrverbot. Durch Anordnung der Betriebsleitung gilt auf dem Betriebsgelände grundsätzlich die Straßenverkehrsordnung, wobei aber die Werksbahn und danach die Stapler Vorrang vor allen anderen haben. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt 20 km/h.

Das Erstgericht nahm bei diesem Sachverhalt eine Verletzung der den Beschuldigten treffenden objektiven Sorgfaltspflicht an, weil er mit dem Stapler praktisch ohne Sicht nach vorne, hauptsächlich "nach Gefühl" gefahren ist und sprach aus, daß der Beschuldigte, um einen Unfall zu vermeiden, entweder nur einen Ballen hätte transportieren dürfen oder rückwärts hätte fahren müssen.

Der fristgerecht angemeldeten und ausgeführten Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit (§§ 468 Abs. 1 Z 4, 281 Abs. 1 Z 9 lit a StPO), Schuld und Strafe gab das Kreisgericht W***** als Berufungsgericht mit Urteil vom 12.Oktober 1990, AZ 7 Bl 238/90 (ON 18) nicht Folge. Es vertrat in rechtlicher Hinsicht die Auffassung, daß sich der Angeklagte objektiv sorgfaltswidrig verhalten hat, weil ihm bekannt war, daß an der Unfallstelle immer wieder Radfahrer fahren, so daß ein mit den rechtlich geschützten Werten angemessen verbundener, besonnener und einsichtiger Mensch keinesfalls ohne Sicht nach vorne mit dem Gabelstapler fahren würde. Er habe auch subjektiv sorgfaltswidrig gehandelt, weil er befähigt war, der objektiven Sorgfaltspflicht zu entsprechen. Dies wäre ihm auch zumutbar gewesen, da es sich im vorliegenden Fall nicht um eine einmalige Überforderung handelte, sondern er seine Arbeit sorgfaltsgemäß einrichten hätte können. Es wäre ihm nämlich möglich gewesen, entweder nur einen Papierballen aufzuladen oder rückwärts zu fahren oder sich eines Einweisers zu bedienen. Auf diese Weise hätte er sich rechtmäßig verhalten, was das Berufungsgericht zur Begründung der Zumutbarkeit genügen ließ.

Rechtliche Beurteilung

II. Die Urteile beider Instanzen verletzen das Gesetz in der Bestimmung der §§ 6 und 88 StGB.

Wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt, fehlt es nämlich an einem Verstoß gegen die objektive Sorgfaltspflicht, durch welchen erst der Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdeliktes erfüllt wird.

Die objektive Sorgfaltswidrigkeit umschreibt das Gesetz mit jener Sorgfalt, zu welcher der Täter "nach den Umständen verpflichtet" ist. Es kommt demnach auf jene Sorgfalt an, die in der konkreten Tatsituation zur Vermeidung der Verwirklichung eines Tatbildes erwartet werden kann. Abzustellen ist daher nicht auf jenes Sorgfaltsmaß, das ein einsichtiger, besonnener, rechtstreuer Mensch allgemein zur Vermeidung von Rechtsgutbeeinträchtigungen jeglicher Art anwendet, sondern darauf, welche Sorgfalt ein solcher Mensch in der konkreten Situation zum Schutz des gefährdeten Rechtsgutes aufgewendet hätte (Leukauf/Steininger, Komm3 § 6 Rz 6; Burgstaller WK § 6 Rz 34; SSt 56/12).

Im vorliegenden Falle wurde im Rahmen der arbeitsspezifischen Tätigkeit des Verurteilten die Betriebsvorschrift erlassen, wonach sein Fahrzeug (Stapler) an diesem Arbeitsort - von der Werksbahn abgesehen - grundsätzlich Vorrang vor allen anderen Fahrzeugen hatte (vgl S 89); auch war das Abstellen ("Halten und Parken" und damit implicite die Benützung) von Fahrrädern im Arbeitsbereich des Verurteilten verboten (S 89). Damit wurde aber - was die beiden Gerichte übersehen haben - die Grenze des erlaubten Risikos und damit die objektive Sorgfaltspflicht durch diese Betriebsvorschriften bestimmt, die als Verkehrsnormen zu werten sind (Leukauf-Steininger aaO RN 11) und deren Zweck ersichtlich war, eine gefahrlose Abwicklung des vorgegebenen Arbeitsprozesses bei den Entladearbeiten mit dem Stapler zu ermöglichen.

Entgegen der Rechtsmeinung der beiden Instanzen kommt es daher nicht darauf an, daß der Verurteilte jede denkbare Gefahr abzuwehren hatte, also grundsätzlich davon ausgehen mußte und sein Verhalten darauf einzurichten hatte, daß diese Vorranganordnung mißachtet wird (vgl S 97 und 126), sondern nur darauf, ob das sozialadäquate Risiko der - im Rahmen der Arbeitsorganisation erlassenen - Betriebsvorschriften verletzt wird. Der Verurteilte konnte sich so lange auf die Einhaltung dieser Betriebsvorschriften durch Werksangehörige verlassen, als er nicht in concreto ein betriebsvorschriftswidriges Verhalten erkannte oder erkennen hätte können. Anhaltspunkte dafür liegen hier aber nicht vor. Das Erstgericht ging vielmehr davon aus, daß Gerhard P***** zum maßgeblichen Zeitpunkt keine Sicht auf die (eigenverantwortlich die ihr bekannte Gefahrensituation mißachtende) Radfahrerin hatte und auch ihr Herannahen nicht bemerkte (S 87).

Wie die Generalprokuratur auch zutreffend hervorhebt, war es nicht der Verurteilte, der den Arbeitsablauf betimmen konnte; dafür, daß er ein Verhalten gewählt hätte, das nicht dem üblichen und von der Betriebsleitung angeordneten Arbeitsprozeß entsprach, fehlt jeder Anhaltspunkt. Die Verantwortung für eine unter Umständen andere Personen gefährdende Arbeitsorganisation trifft aber - wie die Generalprokuratur gleichfalls zutreffend ausführte - nicht den Verurteilten, sondern die zur Programmierung des Arbeitsprozesses berufenen übergeordneten Unternehmensorgane (vgl Kienapfel BT I3, § 80 Rz 22 a).

Es war daher der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes Folge zu geben und wie aus dem Spruch ersichtlich zu entscheiden.

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