European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0110OS00072.24H.0401.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Im Verfahren AZ 6 St 43/23i der Staatsanwaltschaft Eisenstadt verletzt die Begründung im Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 1. August 2023, AZ 48 Bl 18/23s, wonach schon die bloße Anhängigkeit eines ausländischen „Parallelverfahrens“ wegen derselben Straftat ein Absehen von der Verfolgung dieser Tat unter Vorbehalt späterer Verfolgung ermögliche, § 192 Abs 1 Z 2 StPO.
Gründe:
[1] Die Staatsanwaltschaft Eisenstadt führte zu AZ 6 St 43/23i ein Ermittlungsverfahren gegen den tadschikischen Staatsangehörigen * O* wegen des Verdachts des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 2, Abs 4 erster Fall FPG in Bezug auf dierechtswidrige Einreise von mehr als drei Fremden im März 2023 (ON 7 S 1 f iVm ON 2).
[2] Noch im März 2023 wurde der Genannte von den ungarischen Behörden festgenommen und befand sich daraufhin in Ungarn in Untersuchungshaft, wo gegen ihn ein Verfahren wegen derselben Vorwürfeeingeleitet wurde (ON 7 S 2 iVm ON 4.2).
[3] Am 11. April 2023 verfügte die Staatsanwaltschaft Eisenstadt „die Einstellung“ „gemäß § 192 Abs 1 Z 2 StPO“ des Verfahrens gegen * O* unter Vorbehalt späterer Verfolgung „in Hinblick auf das in Ungarn geführte Verfahren“ (ON 7 S 2 iVm ON 1.2).
[4] Mit Schreiben vom 17. Mai 2023 begehrte der hiervon verständigte Rechtsschutzbeauftragte der Justiz fristgerecht die Fortführung des Ermittlungsverfahrens und kritisierte dieses Vorgehen als gesetzwidrig, weil die Staatsanwaltschaft übersehen habe, dass „die Voraussetzung einer Einstellung nach § 192 Abs 1 Z 2 StPO, nämlich die bereits erfolgte Bestrafung (bzw eine bereits erfolgte erfolgreiche Diversion), nicht vorliegt“ (ON 6.3).
[5] Diesen Fortführungsantrag übermittelte die Staatsanwaltschaft samt einer ablehnenden Stellungnahme dem Landesgericht Eisenstadt (ON 1.4), wobei sie die Antragslegitimation des Rechtsschutzbeauftragten (§ 195 Abs 2a StPO iVm § 194 Abs 3 Z 2 StPO) bestritt, weil sie die geschleppten Personen als Opfer iSd § 65 Z 1 StPO ansah (ON 7 S 2 f).
[6] Ferner betonte die Anklagebehörde, dass es sich bei der Annahme, dass der wegen des identen Sachverhalts in Ungarn in Untersuchungshaft befindliche Beschuldigte dort auch verurteilt werden würde, um eine bloße Prognose handle, weshalb „die Einstellung“ unter dem Vorbehalt späterer Verfolgung erfolgt sei. „Eine Einstellung unter Vorbehalt [...] für den Fall einer bereits rechtskräftigen Auslandsverurteilung“ wäre „völlig widersinnig“. Daraus sei zu schließen, dass ein solches Vorgehen „eben für den Fall der prognostizierten Verurteilung vorgesehen“ sei. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten wäre die Führung von „Parallelverfahren in mehreren SIS‑Staaten“ „kontraproduktiv“, zumal ein solches Vorgehen „in weiterer Folge 'ne bis in idem‑Probleme verursachen und zu Doppelverurteilungen führen“ könne (ON 7 S 3 ff).
[7] Nach Einholung einer Äußerung des Rechtsschutzbeauftragten (ON 4 der Bl‑Akten) wies der Drei-Richter-Senat des Landesgerichts Eisenstadt mit Beschluss vom 1. August 2023, AZ 48 Bl 18/23s (ON 7 der Ermittlungsakten), den „Antrag auf Fortführung des Strafverfahrens“ mangels Antragslegitimation des Rechtsschutzbeauftragten zurück (BS 1 iVm BS 6).
[8] Feststellungen dahin, dass in Ungarn eine Bestrafung des Beschuldigten wegen der verfahrensgegenständlichen Taten erfolgt wäre, dass er nach einer Diversion außer Verfolgung gesetzt worden wäre (vgl § 192 Abs 1 Z 1 erster Fall StPO) oder dass der Genannte wegen der Begehung anderer strafbarer Handlungen von Österreich an (hier) Ungarn ausgeliefert worden wäre (vgl § 192 Abs 1 Z 2 zweiter Fall StPO), sind dem Beschluss nicht zu entnehmen.
[9] Dessen ungeachtet sahdas Landesgericht Eisenstadt das Begehren auf Fortführung auch „inhaltlich“ als unberechtigt an und bezeichnete die im Beschluss wörtlich wiedergegebenen (BS 3 f) Ausführungen der Staatsanwaltschaft als „überzeugend“ (BS 6). Nach Ansicht des Landesgerichts sei die Anwendung der in Rede stehenden Bestimmung sinnvollerweise „teleologisch zu reduzieren“ und könne „die Einstellungsform nach § 192 Abs 1 Z 2 StPO wohl nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zu einer gerichtlich angeordnete Fortführung bewirken. Nachdem die Staatsanwaltschaft Eisenstadt im vorliegenden Fall die Einstellung ausdrücklich unter Vorbehalt späterer Verfolgung“ verfügt habe und „unter Berücksichtigung der Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit“ „die Führung von Parallelverfahren tunlichst zu vermeiden“ sei, komme „dem Begehren auf Fortführung auch materiell keine Berechtigung“ zu (BS 6).
Rechtliche Beurteilung
[10] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ausführt, steht dieBegründung (vgl Ratz, WK-StPO § 292 Rz 3) dieses Beschlusses mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[11] § 192 Abs 1 Z 2 erster Fall StPO ermöglicht der Staatsanwaltschaft ein Absehen von der Verfolgung einer Tat, wenn der Beschuldigte schon im Ausland für die ihm zur Last liegende Tat bestraft oder dort nach Diversion außer Verfolgung gesetzt worden ist und nicht anzunehmen ist, dass das inländische Gericht eine strengere Strafe verhängen werde (vglSchroll, WK‑StPO § 192 Rz 58 ff).
[12] Die Anknüpfung eines Vorgehens im Sinn des § 192 Abs 1 Z 2 erster Fall StPO an eine bloße Prognose über den Ausgang des im Ausland geführten Strafverfahrens ist dem Gesetz – anders als im zweiten Fall des § 192 Abs 1 Z 2 StPO, der allerdings eine Auslieferung an einen anderen Staat wegen der Begehung anderer „strafbarer Handlungen“ voraussetzt – nicht zu entnehmen (vglSchroll, WK‑StPO § 192 Rz 48, 66).
[13] Zur Hintanhaltung paralleler Verfahren wegen derselben Tat ist im Anwendungsbereich des EU‑JZG im Übrigen das in §§ 59a ff EU‑JZG normierte Prozedere vorgesehen. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Bestimmungen kommt zur Erreichung dieses Ziels die Erwirkung der Übernahme der Strafverfolgung im ersuchten Staat und die Abbrechung des Verfahrens gemäß § 197 Abs 2a StPO iVm § 74 Abs 4 ARHG in Betracht (Nordmeyer WK‑StPO § 197 Rz 1 und Martetschläger in WK² ARHG § 74 Rz 6).
[14] Fassbare Anhaltspunkte für das Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke, die für eine analoge Anwendung des § 192 Abs 1 Z 2 erster Fall StPO über dessen Wortlaut („bestraft oder […] außer Verfolgung gesetzt“) hinaus sprechen würden (vgl RIS-Justiz RS0098756 [insbesondere T3, T4, T14]), bietet die Rechtsordnung nicht. Ebenso wenig kommt eine „teleologische Reduktion“ dieser Bestimmung im vom Landesgericht Eisenstadt intendierten Sinn in Betracht, weil ein klarer Nachweis fehlt, dass der Gesetzeswortlaut in sachlich nicht gerechtfertigter Weise überschießend weit gefasst sein könnte (vgl RIS‑Justiz RS0106113 [insbesondere T6, T9]).
[15] Die vom Landesgericht Eisenstadt vertretene Rechtsansicht, wonach schon die bloße Anhängigkeit eines ausländischen „Parallelverfahrens“ wegen derselben Tat, bzw fallbezogen bereits die Information, dass gegen den Beschuldigten im Ausland ein Strafverfahren wegen derselben Taten anhängig ist, ein Absehen von der Verfolgung dieser Tat unter Vorbehalt späterer Verfolgung ermögliche, verletzt somit § 192 Abs 1 Z 2 StPO.
[16] Da dies * O* nicht zum Nachteil gereicht, hat es mit der Feststellung der Gesetzesverletzung sein Bewenden (§ 292 vorletzter Satz StPO; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 43).
[17] Im Übrigen sei hinzugefügt, dass § 192 Abs 1 StPO – unter den in Z 1, 1a und 2 leg cit näher dargestellten Bedingungen – die Möglichkeit eines Verfolgungsverzichts der Staatsanwaltschaft (nur) hinsichtlich einzelner Straftaten aus Opportunitätserwägungen vorsieht, wenn einem Beschuldigten mehrere Straftaten zur Last liegen (vgl Abs 1 erster Satz leg cit; Salimi in WK2 StGB § 66 Rz 10; Kirchbacher, StPO15 § 192 Rz 1).
[18] Die Zulässigkeit des Absehens von der Verfolgung aller dem Beschuldigten zur Last liegenden Straftaten und der „Einstellung“ des Verfahrens zur Gänze (so ON 1.2 S 1 im vorliegenden Fall) ist aus § 192 StPO hingegen nicht abzuleiten (aA unter Hinweis auf § 34 Abs 2 vorletzter Satz StPO idF vor dem StPRefG und einen mutmaßlichen Gesetzeszweck Steiner, LiK‑StPO § 192 Rz 30 mwN).
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