European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0100OB00016.25P.0318.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Unionsrecht, Unterhaltsrecht inkl. UVG
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die 2013 geborene S*, ihre Mutter und der Vater sind Staatsangehörige der Ukraine. S* und ihre Mutter leben in Österreich. Der Aufenthalt des Vaters ist unbekannt; er hält sich vermutlich versteckt, um einem Einzug in die ukrainische Armee zu entgehen. Die Ehe der Eltern wurde im Jahr 2016 in der Ukraine geschieden. Das Kind befindet sich in der Pflege und Erziehung der Mutter.
[2] S* und ihre Mutter lebten bis zum 24. Februar 2022 in Kiew in der Nähe des internationalen Flughafens. Am ersten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine flüchteten sie nach Österreich und halten sich seither hier auf. Ihnen kommt der Status als Vertriebene iSd § 62 AsylG 2005 zu.
[3] Der Vater ist aufgrund eines ukrainischen Titels aus dem Jahr 2017 zur Leistung von Unterhalt an S* in Höhe eines Viertels seines Einkommens, aber nicht weniger als 30 % des Existenzminimums verpflichtet. Derzeit erzielt er zwar weder Einkünfte, noch ist ihm das möglich; er leistet aber monatlichen Unterhalt von 50 EUR auf ein Konto der Mutter in der Ukraine, auf das sie jedoch keinen Zugriff hat.
[4] Mit Antrag vom 29. April 2024 begehrte das durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger vertretene Kind Unterhaltsvorschüsse nach § 4 Z 2 UVG in Richtsatzhöhe. Zur Anspruchsberechtigung berief sich das Kind auf seinen Status als Vertriebene.
[5] Mit Beschluss vom 27. Mai 2024 gewährte das Erstgericht dem Kind für die Zeit von 1. April 2024 bis 31. März 2029 monatliche Unterhaltsvorschüsse von 50 EUR. S* komme zwar nicht der Status einer Asyl‑, sehr wohl aber der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu. Da Kiew immer wieder massiven (Bomben‑)Angriffen ausgesetzt sei, sei es nachvollziehbar, dass sie und ihre Mutter nicht dorthin zurückkehren wollten. Der Unterhaltstitel sei in Österreich nicht vollstreckbar und die Schaffung eines (neuen) Titels nicht möglich. Da der Vater monatlich 50 EUR leiste, sei aber davon auszugehen, dass dies seiner Leistungsfähigkeit entspreche. Es sei daher Unterhaltsvorschuss in dieser Höhe zu gewähren.
[6] Das (nur vom Bund angerufene) Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Aus der Aktenlage ergäben sich sehr wohl ausreichende Anhaltspunkte für individuelle Fluchtgründe des Kindes und der Mutter: Das Kind habe in der Nähe des internationalen Flughafens gewohnt, der gleich zu Beginn des Kriegs und auch weiterhin starken Angriffen ausgesetzt sei. Vor dem Hintergrund, dass Russland im Krieg wahllos Ukrainer töte und ihre Kinder nach Russland entführe, stehe fest, dass auch S* allein wegen ihrer Nationalität befürchten müsse, bei einer Rückkehr in die Ukraine getötet oder entführt zu werden. Sie gehöre daher zu jenen Personen, die nach § 2 Abs 1 UVG Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse haben. Die Voraussetzungen des § 4 Z 2 UVG lägen vor.
[7] Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zu, weil zur Frage, ob der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die von Russland dabei gesetzten Taten gegen Kinder ukrainischer Nationalität mit Fluchtgründen nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) vergleichbar seien, noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bestehe.
[8] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, mit dem dieser die Abweisung des Vorschussantrags anstrebt. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.
[9] Das Kind beantragt, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
[10] Die Mutter und der (durch einen Zustellkurator vertretene) Vater erstatteten keine Rechtsmittelbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionsrekurs ist entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.
[12] 1. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen, was auch im Anwendungsbereich des § 62 Abs 1 AußStrG gilt (RS0112769; RS0112921). Eine bei Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich aufgeworfene Rechtsfrage erheblicher Bedeutung fällt daher weg, wenn sie durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zwischenzeitig geklärt wurde (RS0112769 [T12]; RS0112921 [T5]). Das ist hier der Fall.
[13] 2. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung zu 10 Ob 42/24k vom 14. Jänner 2025 ausgesprochen, dass § 2 Abs 1 UVG dahin richtlinienkonform auszulegen ist, dass nicht nur Asyl‑ und subsidiär Schutzberechtigte sondern auch Vertriebene, die nach der RL 2001/55/EG (MassenzustromRL) bzw einer auf Grundlage des § 62 AsylG 2005 erlassenen Verordnung ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in Österreich haben, österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sind.
[14] 3. Das trifft auf S* unstrittig zu, weil sie als Staatsangehörige der Ukraine mit Wohnsitz in der Ukraine aufgrund des bewaffneten Konflikts ab 24. Februar 2022 aus der Ukraine vertrieben wurde (§ 1 Z 1 VertriebenenVO [BGBl II 2022/92 idF BGBl II 2023/27]). Auch der Bund geht in seinem Revisionsrekurs davon aus, dass S* in den Anwendungsbereich der VertriebenenVO fällt.
[15] 4. Auf die vom Rekursgericht als erheblich erachtete und auch im Revisionsrekurs allein thematisierte Frage, ob aus der Ukraine Vertriebene die Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aufgrund des dort herrschenden Kriegs aus Gründen abgebrochen haben, die mit den in der GFK und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) aufgezählten vergleichbar sind (vgl dazu 10 Ob 1/24f Rz 12; 10 Ob 57/23i ua), kommt es daher nicht an.
[16] Es kann auch dahinstehen, dass das Rekursgericht zu dieser Frage – wie der Bund an sich zu Recht einwendet – vermeintlich (vgl RS0110714 [T8]) gerichtskundige Tatsachen berücksichtigt hat, ohne das zuvor mit den Parteien zu erörtern (RS0040219 [T2, T3, T15]).
[17] 5. Zusammenfassend haben die Vorinstanzen die Anspruchsberechtigung nach § 2 Abs 1 UVG (im Ergebnis) daher zu Recht bejaht. Andere Gründe macht der Bund in seinem Rechtsmittel nicht geltend.
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