OGH 1Ob14/85; 13Os17/98; 8Ob20/98v; 1Ob106/01x; 9ObA180/01p; 9ObA289/01t; Bsw35289/11; Bsw18297/13; Bsw61985/12; Bsw17895/14 (RS0074990)

OGH1Ob14/85; 13Os17/98; 8Ob20/98v; 1Ob106/01x; 9ObA180/01p; 9ObA289/01t; Bsw35289/11; Bsw18297/13; Bsw61985/12; Bsw17895/1428.5.2020

Rechtssatz

Unter dem Begriff des fairen Rechtsverfahrens nach Art6 Abs 1 MRK wird verstanden, daß es den Parteien ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gibt, so daß nicht eine Partei der anderen gegenüber benachteiligt wird (Prinzip der Waffengleichheit oder Chancengleichheit). Der Betroffene muß sein Recht im Verfahren effektiv vertreten können. Mündlichkeit und damit ein Recht der Partei auf Anwesenheit vor dem Gericht wird nur dann gefordert, wenn der persönliche Charakter und die Lebensweise der Partei unmittelbar erheblich für die Meinungsbildung des erkennenden Gerichtes ist.

Normen

MRK Art6 Abs1 II5a2

1 Ob 14/85EGMR16.09.1985

Veröff: SZ 58/142 = JBl 1986,444 (kritisch Schantl)

13 Os 17/98OGH22.04.1998

Ähnlich; nur: Unter dem Begriff des fairen Rechtsverfahrens nach Art6 Abs 1 MRK wird verstanden, daß es den Parteien ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gibt, so daß nicht eine Partei der anderen gegenüber benachteiligt wird. (T1); Beisatz: Auch Art 6 MRK untersagt nicht die Durchführung von Beweisen, die im sichtbaren Zusammenhang zur Person des Angeklagten und den ihm vorgeworfenen strafbaren Handlungen stehen, wenn diese Beweise in einer dem Grundsatz der Anhörung der Sache des Angeklagten in billiger Weise ("fair hearing") gerecht werdenden Art durchgeführt werden. (T2)

8 Ob 20/98vOGH26.11.1998

nur: Unter dem Begriff des fairen Rechtsverfahrens nach Art6 Abs 1 MRK wird verstanden, daß es den Parteien ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gibt, so daß nicht eine Partei der anderen gegenüber benachteiligt wird (Prinzip der Waffengleichheit oder Chancengleichheit). Der Betroffene muß sein Recht im Verfahren effektiv vertreten können. (T3); Beisatz: Art 6 MRK räumt neben der institutionellen Gerichtsgarantie primär allgemeine Verfahrensgarantien ein. Die bloße Behauptung der Unrichtigkeit einer Entscheidung vermag somit für sich allein einen Verstoß gegen Art 6 Abs 1 MRK nicht darzustellen. (T4)

1 Ob 106/01xOGH29.05.2001

nur: Der Betroffene muss sein Recht im Verfahren effektiv vertreten können. (T5)

9 ObA 180/01pOGH19.09.2001

Vgl auch; Beis wie T5

9 ObA 289/01tOGH17.04.2002

nur T3

Bsw 35289/11EGMR19.09.2017

nur T1; Veröff: NL 2017,425

Bsw 18297/13AUSL22.11.2018

nur T1<br/>Anm: Veröff: NL 2018,518

Bsw 61985/12AUSL03.10.2019

vgl; nur T1<br/>Anm: Veröff: NL 2019,389

Bsw 17895/14AUSL28.05.2020

vgl; Beisatz: Da es in einem Verfahren über den Erlass eines Kontaktverbots entscheidend auf die Beurteilung der Persönlichkeit desjenigen ankommt, gegen den ein solches Verbot<br/>verhängt werden soll, ist der Kontaktwerber in der Regel persönlich anzuhören. Auf der anderen Seite muss man sich des besonderen Hintergrunds von Betreuungsverfahren bewusst machen, vor dem die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, den Kontaktwerber nicht persönlich zu hören, gesehen werden muss. Die betreute Person, die vom Kontaktwerber sexuell missbraucht worden war und mit der er ein Kind gezeugt hatte und die in erster Linie von dem Kontaktverbot betroffen war, war persönlich vom zuständigen Richter gehört worden, während der Standpunkt des Kontaktwerbers, der nur einer von weiteren Belangen war, die von den Gerichten bei der Prüfung der Reichweite des Rechts des Betreuers, die Kontakte der betreuten Person zu bestimmen, berücksichtigt werden mussten, weniger ins Gewicht fiel und durch seine schriftliche Stellungnahme und die dem Gericht vorliegenden Beweise zum Ausdruck gebracht wurde. Allerdings war das Kontaktverbot von weitreichender Natur. Die zentrale, dem betreffenden Verfahren zugrundeliegende Frage war zudem mit einer Beurteilung der Persönlichkeit des Kontaktwerbers sowie seiner Beziehung zur betreuten Person verbunden, deren Natur er anfocht. Obwohl er an seiner Position festhielt, weiterhin sexuelle Kontakte mit ihr haben zu wollen und ungeachtet dessen, dass ihn das Erstgericht während des Betreuungsverfahrens persönlich gehört hatte, war die Angelegenheit im Verfahren nicht rein rechtlicher und technischer Natur. Eine persönliche Anhörung hätte es dem Gericht zweiter Instanz somit ermöglicht, sich einen eigenen Eindruck vom Kontaktwerber zu machen und ihm die Möglichkeit zu geben, seine persönliche Situation darzulegen. Somit lagen keine außergewöhnlichen Umstände vor, die das Absehen von einer persönlichen Anhörung des Kontaktwerbers durch die innerstaatlichen Gerichte gerechtfertigt hätten, was zu einer Verletzung von Art 6 Abs 1 MRK führte. (Evers gg Deutschland) (T6)<br/>Beisatz: Zur Akteneinsicht im Zivilverfahren: Wird gegen den Kontaktwerber in einem Betreuungsverfahren ein Kontaktverbot wegen unerlaubter sexueller Kontakte mit der geistig behinderten Tochter seiner Lebensgefährtin erlassen und gewährt das zuständige Gericht ihm nur in Bezug auf jene Teile des Aktes Einsicht, die es als für seine Entscheidung relevant erachtete, wobei es zumindest die relevanten Unterlagen zu einem großen Teil offenlegte und dort, wo es dies nicht tat, Zusammenfassungen der relevanten Informationen bereitstellte, die in den für die Entscheidung wesentlichen Dokumenten enthalten waren, und erhält der Kontaktwerber hinsichtlich des Betreuungsaktes ausreichend Kenntnis über die Gutachten in Bezug auf die Tochter, die besonders sensible Informationen enthielten und von besonderer Wichtigkeit für die Entscheidung waren, ein Kontaktverbot zu erlassen, gibt es keine Anzeichen, dass die gegen den Kontaktwerber erlassenen Zugangsbeschränkungen betreffend den Inhalt des Betreuungsakts solcherart waren, dass die Möglichkeit, sich in Bezug auf das Kontaktverbot zu verteidigen, dem Grunde nach vereitelt wurde oder dass sie nicht auf relevante und hinreichende Gründe gestützt waren. Da das anzuwendende innerstaatliche Recht den Zugang zum Akt nur insoweit beschränkte, als kein Konflikt mit dem echten Interesse eines anderen Beteiligten oder eines Dritten bestand und lediglich auf den Schutz der persönlichen Daten von besonders vulnerablen Personen abzielte, die in ein Betreuungsverfahren involviert waren, in dem ein Kontaktverbot erlassen wurde, weist nichts darauf hin, dass die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, dem Kontaktwerber vollen Zugang zum Akt zu geben, gegen Art 6 MRK verstieß, noch dazu wo die Weigerung auf der Basis stichhaltiger und ausreichender Gründe erfolgte und die Möglichkeit,<br/>sich gegen das Kontaktverbot zu wehren, dadurch nicht dem Grunde nach vereitelt wurde. (Evers gg Deutschland) (T7)<br/>Anm: Veröff: NL 2020,200

Dokumentnummer

JJR_19850916_OGH0002_0010OB00014_8500000_005

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